Trübe Aussichten auf die documenta 15?
18. Januar 2022Welche Künstlerinnen und Künstler stellen in der hessischen Stadt Kassel aus? Welche Antworten liefern sie auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit - sei es nun Klimawandel, Digitalisierung, soziale Verwerfungen oder politische Radikalisierung? Die Spannung wächst, nicht nur in der Kunstszene. Seit wenigen Tagen jedoch hat die "documenta fifteen", die vom 18. Juni bis 25. September 2022 ihre Pforten öffnen soll, auch eine klar politische Dimension.
In einem Blogbeitrag hat ein Kasseler "Bündnis gegen Antisemitismus" dem indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa vorgeworfen, auch Organisationen einzubinden, die den kulturellen Boykott Israels unterstützten oder antisemitisch seien. Ein Journalist der Wochenzeitung "Die Zeit" griff die Vorwürfe auf. Mehrere Experten hielten dagegen, nannten die Kritik überzogen oder unbegründet.
Deutschland trägt Verantwortung für Israel
Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle, Aufsichtsratsvorsitzender der documenta GmbH, wies die Vorwürfe gegen Ruangrupa zurück und sprach von einer "nicht sachlich vom Zaun gebrochenen und aufgeheizten Debatte". Deutschland habe aufgrund seiner Vergangenheit "eine herausragende Verantwortung für Menschen jüdischen Glaubens und den Staat Israel", so Geselle.
Dennoch zog das Thema Kreise: Kulturstaatsministerin Claudia Roth kontaktierte die Träger der documenta, das Bundesland Hessen und die Stadt Kassel und drängte auf Beratungen. Hessens Kunstministerin Angela Dorn, stellvertretende Vorsitzende des documenta-Aufsichtsrates, teilte im Anschluss des Treffens mit, die Runde am Montag (17.01.) habe noch einmal gezeigt, dass alle an einem Strang zögen und sich ihrer Verantwortung bewusst seien. "Für uns gilt gemeinsam, dass die Kunstfreiheit ein hohes Gut ist und ein zentraler Bestandteil unserer demokratischen Gesellschaft. Das gilt auch und gerade dann, wenn sie den politischen Diskurs berührt."
Kostensteigerung der "documenta fifteen" erwartet
Unterdessen laufen die Vorbereitungen zur documenta weiter auf Hochtouren. Erschwert werden sie durch die Corona-Pandemie, doch eine Verschiebung oder Absage ist derzeit kein Thema: "Wir gehen weiterhin davon aus, dass die documenta wie geplant stattfinden wird", sagt Generaldirektorin Sabine Schormann. Ihr bereits aufgrund von zusätzlichen Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen aufgestockter Etat von 42 Millionen Euro müsse jedoch noch einmal deutlich angehoben werden.
Welche Kunst die "documenta fifteen" präsentieren wird, steht fünf Monate vor dem Startschuss zum Teil noch in den Sternen. Große Namen der Kunstszene finden sich dieses Mal kaum. Doch schon jetzt hat Ruangrupa erste Akzente gesetzt. Die vorläufige Teilnehmerliste mit bislang vierzehn Kollektiven, Organisationen und Institutionen sowie 54 - weitgehend unbekannten - Künstlerinnen und Künstlern veröffentlichte das Künstlerkollektiv in der Kasseler Obdachlosenzeitung "Asphalt".
Documenta15 verfolgt soziale Anliegen
Einblicke in den Stand der Planungen gewähren in diesen Tagen am ehesten die Homepage der "documenta fifteen". Hier finden sich Fotos, Kurzbeschreibungen und weiterführende Links zu bisher eingeladenen Künstlern, Kollektiven und Kunstprojekten. Vertreten sind etwa die kubanischen Aktivisten von INSTAR, die soziale Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit anmahnen und sich dabei auf die deutsche Philosophin Hannah Arendt berufen. In der chinesischen Millionenstadt Guangzhou wirken die Mitglieder von BOLOHO, einer Künstlergruppe, die soziale Projekte auf der Basis von Gleichheit, Selbstdisziplin und gegenseitiger Hilfe aufbauen. Die spanische Agentur INLAND betreibt einen Radiosender und eine Akademie, veranstaltet Ausstellungen und produziert Käse. Eingeladen zur Teilnahme an der documenta ist auch der Berliner Comicautor- und zeichner Nino Bulling , der sich in seinen Arbeiten mit Rassismus, rechtem Terror aber auch Fragen des menschlichen Miteinanders beschäftigt.
Indonesische Reisscheune als Modell kollektiver Zusammenarbeit
Was wie ein bunter Markt der Möglichkeiten wirkt, folgt der Denkweise von Ruangrupa, die auf kollektives Arbeiten setzt. Schon deshalb werde sich die diesjährige Schau von ihren vierzehn Vorgängerinnen unterscheiden, kündigte das indonesische Künstlerkollektiv an. Ruangrupa organisiert die "documenta fifteen" nach dem Vorbild der indonesischen Lumbung-Architektur. "Lumbung" - das Wort steht in dem riesigen Inselstaat mit mehr als 270 Millionen Einwohnern für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. Auch bei der documenta soll das Teilen von Ressourcen zum Wohle aller im Mittelpunkt stehen. Die Teilnehmer - Kollektive, Organisationen und Institutionen aus aller Welt - sollen diesem Leitbild entsprechend "lumbung" praktizieren.
Kann die documenta ihrem Ruf gerecht werden?
Ob das Kasseler Spektakel auf diese Weise seinem Ruf als weltweit wichtigste Schau für zeitgenössische Kunst gerecht werden kann, wird sich erweisen. Im Stadtbild ist die kommende documenta bereits sichtbar: Mitten in der
Innenstadt Kassels leuchtet das ruruHaus. Das ehemalige Kaufhaus dient als Aushängeschild und Kulturzentrum der documenta sowie als eine Art "Wohnzimmer". Von außen ist es farblich in Orange, Grün, Violett und Gelb gestaltet. Auch die örtliche Hütt-Brauerei hat sich als Kooperationspartner einen Anstrich in den bunten documenta-Farben zugelegt und gemeinsam mit Ruangrupa-Mitgliedern ein eigenes documenta-Bier kreiert.
Der Ticketverkauf läuft seit September 2021. Wie viele Gäste tatsächlich kommen werden, sei in Pandemiezeiten aber nur schwer abzusehen, heißt es. Wird auch die 15. Ausgabe zum Mekka für Kunstfans aus aller Welt?