Mitmachen bei der documenta
4. Juni 2017Das Wahrzeichen Athens, der Tempel der Akropolis, steht unverkennbar mitten auf dem Friedrichsplatz in Kassel. "Als ich in Athen war, dachte ich, das passt nie auf diesen Platz", sagt die Kunstvermittlerin Diana Rothaug und deutet mit einer Handbewegung die Ausmaße des Stahlgerüstes an, das den berühmten Tempel in Originalgröße nachbildet. An den Säulen und am Dach hängen dicht an dicht Bücher in Plastikfolien. "The Parthenon of Books" heißt das Werk, an dem noch immer geschraubt und gehämmert wird. Geschaffen hat es die argentinischen Künstlerin Marta Minujín.
An diesem Objekt käme man bei einer Führung nicht vorbei, ohne ein paar Worte zu verlieren, meint Diana Rothaug. Als Kunstvermittlerin für die documenta 14 macht sie sich bereits Gedanken, was sie den Besuchern bei den Rundgängen erzählen wird. Das Kunstwerk sei ein schönes Sinnbild für Demokratie findet sie. "Der Parthenon ist durch die Treppen rundherum von allen Seiten zugänglich und durchlässig, das begeistert mich. Er wird zu einem wunderbaren Treffpunkt werden."
Bürger sollen Bücher spenden
Längst nicht alle Säulen des "Parthenon of Books" sind mit Büchern bedeckt. Auf einem Schild wird in großen Lettern zur Bücherspende aufgerufen. Gesucht werden "verbotene" Bücher, deren Inhalt Regierungen nicht passte oder deren Verfasser sogar verfolgt wurden. Bis zu 100.000 Bücher soll der Tempelnachbau an diesem geschichtsträchtigen Ort tragen: Auf dem Friedrichsplatz ließen die Nationalsozialisten im Mai 1933 rund 2000 Bücher verbrennen.
Der Parthenon ist eines von vielen (Kunst)-Projekten, an denen sich die Bürger bei dieser documenta beteiligen können. Für die Vermittlungsarbeit gibt es extra eine eigene Abteilung. Die Mitarbeiter organisieren nicht nur Workshops für Kunstvermittler/innen wie Diana Rothaug, sondern bringen in verschiedenen Projekten auch Künstler mit Kasseler Bürgern zusammen und erarbeiten eigene Projekte.
Die Vermittlung ist bei der documenta wichtig
Eines dieser Projekte im Rahmen des Vermittlungsprogramms nennt sich "Lose Fäden". Seit einiger Zeit schon treffen sich Frauen mit Migrationshintergrund zu einem Nähkreis und unterhalten sich über Themen der documenta, wie etwa die mündliche Überlieferung von Wissen.
Anton Kats treibt ein anderes Projekt voran. Als Künstler beschäftigt er sich selbst mit der Vermittlung von Kunst. Der gebürtige Ukrainer war eine Zeitlang als Flüchtling in Deutschland und hat im Vorfeld der documenta Beziehungen zu den Menschen in Kassel geknüpft. Im sogenannten "Narrowcast House" entwickelt er mit kulturellen Organisationen und Initiativen gemeinsame Projekte. "Es geht darum, der Nachbarschaft zuzuhören, voneinander zu lernen und etwas zusammen auf die Beine zu stellen", sagt Clare Butcher, Koordinatorin der Vermittlungsabteilung.
Warum die Kunstvermittler "Choristen" heißen
Ab dem 10. Juni kümmern sich rund 150 Kunstvermittler/innen, sogenannte "Choristen" darum, den Besuchern der documenta die Kunst näherzubringen. Die Mitglieder des "Chors" sollen nicht nur Hintergrundwissen zu den Kunstwerken liefern, sondern auch Dialoge und Debatten anstoßen.
Die Bezeichnung "Chorist" geht auf den Chorus der Antike zurück. "Im klassischen Theater, auf das wir uns beziehen, konnte der Chor kommentieren, was auf der Bühne passiert", sagt Clare Butcher. Dass der Chor auch mal die Seite wechselte und kurzzeitig eine Rolle im Stück übernahm, war durchaus üblich. "Das hat mit einer Verschiebung der Perspektiven und der Hierarchien zu tun", erläutert Butcher. "Wer hat etwas zu sagen? Welche Stimme ist relevant und wem hören wir zu?"
"Das Konzept dieser documenta ist radikaler"
Hierarchien flach halten, Grenzen überwinden und Perspektiven wechseln, das sind zentrale Themen der documenta in Athen und Kassel. Choristin Doro-Thea Chwalek war als Kunstvermittlerin auch schon bei der letzten documenta vor fünf Jahren dabei. Da hieß sie nicht "Choristin", sondern "Worldly Companion". Damals wurden Experten aus unterschiedlichen Wissensgebieten vom Richter bis zum Förster für die Besucherführungen gesucht. "Die Idee war, verschiedene Wissensgebiete mit der Kunst in Verbindung zu bringen", sagt die gelernte Pädagogin. "Es gehörte zum Konzept, das persönliche Wissen einfließen zu lassen und aus dieser Perspektive heraus Kunst zu reflektieren."
Das Konzept vom künstlerischen Leiter der documenta 14, Adam Szymczyk, findet Doro-Thea Chwalek noch radikaler. Bei dieser documenta seien der Künstler, das Werk und die Kuratoren nicht wichtiger als die Besucher. Im Konzept gäbe es tatsächlich keine Hierarchien: "Jede Perspektive, jede Sichtweise ist unterschiedlich und hat für den jeweiligen Menschen eine eigene Bedeutung. Wir versuchen, diese unterschiedlichen Stimmen wie in einem Chor zum Klingen zu bringen, und das gibt dann den Gesamtsound der documenta."
Offen für kontroverse Stimmen
Nicht immer werden die vielen Stimmen der documenta harmonisch klingen. Kunstvermittlerin Diana Rothaug ahnt bereits, bei welchem Kunstobjekt es kontroverse Diskussionen geben könnte. Fast unauffällig steht ein Obelisk aus grauem Beton auf dem Platz vor einem Kaufhaus in der Innenstadt. Ein paar Schritte weiter beginnt die "Nordstadt", ein Viertel, in dem viele Menschen mit Migrationshintergrund leben, wo aber gleichzeitig die Gentrifizierung voranschreitet.
Auf dem Obelisk des amerikanisch-nigerianischen Künstlers Olu Oguibe soll in vielen Sprachen die Inschrift "Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt" stehen. Diana Rothaug will sich noch genau überlegen, was sie den Besuchern dazu erzählt. "Gerade beim Flüchtlingsthema kann es sehr lebhaft werden." Auf jeden Fall will sie auch mit denen im Gespräch bleiben, die sich kritisch äußern, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen in Kassel geht. Wie der Chor der Besucher und der Menschen, die bei dieser documenta mitwirken, am Ende wirklich klingt, wird sich ab dem 10. Juni zeigen, wenn die documenta nach Athen auch in Kassel eröffnet.