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Die Zeit für Entscheidungen läuft aus

Ingo Mannteufel1. September 2004

Ende August 2004 wurde Russland von einer fürchterlichen Terrorwelle heimgesucht. Die Ursachen für den Terror liegen in Tschetschenien. Gibt es noch Chancen für eine Lösung dieses Konflikts? Ein Kommentar.

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Die Anschläge gegen russische Passagierflugzeuge, der Selbstmordanschlag im Zentrum Moskaus und die Geiselnahme von Schülern im Nordkaukasus brachten auf grausame Weise Tschetschenien in das Bewusstsein und den Alltag vieler Russen zurück. Es stellt sich erneut die Frage, ob der Tschetschenien-Konflikt noch zu lösen ist.

Machen Verhandlungen mit Maschadow noch Sinn?

Einige westliche Kommentatoren werden wieder ihren üblichen Vorschlag nach einer Internationalisierung des Tschetschenien-Konfliktes vorbringen, obwohl das unrealistisch ist: Ein solcher Beweis der Schwäche käme einem Offenbarungseid der russischen Führung gleich. Gegen diesen Schritt spricht das bei Putin und weiten Teilen der politischen Elite verbreitete Großmachtdenken, das auch in der russischen Bevölkerung viele Anhänger hat.

Ebenso werden einige Beobachter Verhandlungen mit Aslan Maschadow fordern, der 1997 unter OSZE-Aufsicht zum tschetschenischen Präsident gewählt wurde. Dabei ist mittlerweile völlig unklar, welche Rebellengruppen er noch repräsentiert. Sollten ihm die für die jüngsten Anschläge verantwortlichen Terroristen - trotz aller anderslautenden Erklärungen von ihm - dennoch unterstehen, dann würde er als Gesprächspartner ausscheiden. Hat er jedoch tatsächlich nichts damit zu tun, dann ist es fraglich, ob Verhandlungen mit ihm weitere Terrorakte verhindern und den Guerilla-Krieg beenden könnten.

Von Putin wird mehr verlangt als nur Stärke

Stattdessen dürfte Präsident Putin weiterhin auf eine Politik der Stärke setzen und eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen dekretieren. Das ist grundsätzlich auch richtig: An einer polizeilichen Verfolgung von Terroristen führt kein Weg vorbei. Das darf aber jedoch nicht alles sein. Damit allein kann dem Terrorismus nicht die soziale und psychologische Grundlage entzogen werden.

Nach Jahren des Krieges leben die meisten Einwohner Tschetscheniens in erbärmlichen provisorischen Unterkünften, mit wenig Aussicht auf eine normale Arbeit. Korruption, Vetternwirtschaft und Amtsmissbrauch verhindern eine Verbesserung der sozialen Situation. Immer wieder wird berichtet, dass Gelder aus Moskau versickern. Hinzukommt das brutale Vorgehen krimineller russischer Soldaten oder Moskau-treuer tschetschenischer Sicherheitskräfte. Ermordungen und Entführungen durch unbekannte „Männer in Masken“ haben ein Klima der Angst geschaffen. Junge Tschetschenen im Alter von Anfang Zwanzig haben nach zehn Jahren Krieg und Gesetzlosigkeit in ihrem Leben fast nichts anders als das gesehen. Es ist zu befürchten, dass eine desillusionierte Generation heranwächst, die nur noch in Terrorakten und Selbstmordanschlägen ihren letzten Ausweg sieht.

Langfristige Gefahr: "ein russisches Palästina"

Daher muss Präsident Putin dafür sorgen, dass kriminelle russische Sicherheitskräfte mit der von ihm üblicherweise geforderten Härte bestraft werden. Vergehen müssen in offenen und fairen Gerichtsverhandlungen geahndet werden, damit Tschetschenen wieder Vertrauen in den russischen Staat fassen können. Ebenso sind umfangreiche finanzielle Unterstützungen notwendig, die nicht durch korrupte Beamte zweckentfremdet werden, sondern in transparenter Form zu einem echten Wiederaufbau Tschetscheniens führen. Angesichts der hohen Ölpreise hat Russland auch genug Geld, wie der 28-prozentige Anstieg der Militärausgaben im Budgetentwurf für 2005 zeigt.

Diese Entscheidungen erfordern jedoch vom russischen Präsidenten Stärke, Weitsicht und ein schnelles Handeln. Im anderen Fall besteht die Gefahr, dass der Tschetschenien-Konflikt zu einem russischen Palästina wird. Terrorschläge könnten dann trauriger Alltag in Russland bleiben.