Die vergessenen Helden des Ersten Weltkriegs
15. Dezember 2019Es ist ein jahrzehntealtes Ritual: In Ypern, einer Kleinstadt im Westen Belgiens, wird seit 1928 jeden Abend um 20 Uhr der Verkehr an der Gedenkstätte Menenpoort angehalten. Der beeindruckende Ehrenbogen im Osten der Stadt ist den in den Flandernschlachten des Ersten Weltkriegs gefallenen alliierten Soldaten gewidmet. Anschließend spielen Trompeter das "Last Post", ein militärisches Hornsignal, das hauptsächlich in Großbritannien und den Staaten des Commonwealth zum Gedenken an die im Krieg gefallenen Soldaten des Commonwealth gespielt wird. In die Wände des Ehrenbogens sind die Namen der bis zum August 1917 gefallenen 54.607 alliierten Soldaten eingemeißelt, die in den Schlachten um Ypern ohne eigenes Grab geblieben sind. Auch hunderte Muslime sind unter ihnen.
Große Solidarität unter den Konfessionen
Obwohl im Ersten Weltkrieg 2,5 Millionen Muslime für Großbritannien, Frankreich und Russland kämpften, ist wenig über sie bekannt. Luc Ferrier will das ändern. Der Belgier gründete 2012 die Stiftung "Forgotten Heroes 14-19", nachdem er Tagebuchaufzeichnungen seines Großvaters aus dem Ersten Weltkrieg entdeckt hatte: "Ich war überrascht von dem enormen Respekt, den er seinen muslimischen Waffenbrüdern entgegenbrachte", so Ferrier im Gespräch mit der Deutschen Welle. Das Ziel der Stiftung sei, herauszufinden, "wie und in welchem Umfang Muslime aus den ehemaligen Kolonien in den Reihen der Alliierten kämpften. Es war sehr überraschend zu sehen, wie groß die Loyalität unter den Soldaten aller Glaubensrichtungen während des Krieges war."
Im Laufe der Zeit hätten er und seine Mitstreiter herzzerreißende Tagebuchaufzeichnungen muslimischer, christlicher und jüdischer Soldaten gefunden, die Schulter an Schulter gekämpft und die Gebräuche und Traditionen des jeweils anderen respektiert hätten, "und das trotz der grauenvollen Verhältnisse, die in den Schützengräben der Schlachtfelder herrschten. Kaplane, Priester, Rabbiner und Imame haben enorme Anstrengungen unternommen, um Arabisch, Hebräisch, Englisch und Französisch zu lernen, oder auch um religiöse Bestattungsrituale direkt an der Front abzuhalten."
Retter in allerhöchster Not
Wie bedeutsam die Truppenteile der verschiedenen Glaubensrichtungen aus militärischer Sicht waren, zeigte sich schon, als deutsche Soldaten im August 1914 in Frankreich einmarschierten. Die Franzosen mobilisierten überstürzt Soldaten aus Algerien, Marokko und Tunesien. Die Briten zogen Truppenteile aus dem gesamten Commonwealth zusammen - einschließlich Indien. Darunter waren Muslime, Sikhs und Hindus. Allen voran die Muslime, die rund ein Drittel der Truppen stellten, waren von Anfang in Kämpfe verwickelt. In der ersten Schlacht um Ypern, die vom 20. Oktober bis zum 18. November 1914 dauerte, kamen sie gerade noch rechtzeitig, um die erschöpften britischen Truppen zu unterstützen.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt galten die indischen Soldaten mit ihren bunten Kopfbedeckungen und Uniformen als Helden und Retter der britischen Armee. Überdies gaben sich die Offiziere Mühe, die Truppen mit Essen nach religiösen Speisevorschriften zu versorgen. Selbst in deutscher Kriegsgefangenschaft waren sie wohlgelitten. In einem Versuch, muslimische Gefangene auf ihre Seite zu ziehen, wurde in einem Gefangenenlager in Wünsdorf bei Berlin gar die erste Moschee des Landes errichtet.
Aus der Vergangenheit lernen
Auf der anderen Seite standen die großen Nachteile: In ihrer indischen Heimat, die damals auf dem Weg zu größerer Autonomie von Großbritannien war, galten die Männer als Verräter an der indischen Sache. Hinzu kamen die Grauen des Vernichtungskrieges. Auf das Inferno aus Granaten, Maschinengewehrfeuer und Giftgas waren die indischen Soldaten vollkommen unvorbereitet. Rund 74.000 von ihnen verloren ihr Leben im Krieg: "Genau wie ein Kohlrabi in Stücke gehackt wird, wird ein Mann durch die Explosion einer Granate in Stücke gerissen", schrieb ein indischer Soldat in sein Tagebuch: "Im Schützengraben fühlt es sich an wie die Hölle auf Erden."
Die tödlichen Folgen dieser Kriegsgräuel sind auch heute noch entlang der ehemaligen Westfront des Ersten Weltkrieges deutlich zu sehen. Die Front erstreckte sich über 750 Kilometer von der Nordsee bis zur schweizerischen Grenze. Auf den meisten Soldatenfriedhöfen, die entlang dieser Linie liegen, sind die muslimischen Gräber klar erkennbar. Diese Sichtbarkeit wird ihnen manchmal zum Verhängnis: Auf dem größten Soldatenfriedhof in Frankreich Notre Dame de Lorette stehen die Grabmäler von 576 muslimischen Soldaten nach Mekka gewandt. In den vergangenen Jahrzehnten wurden sie mehrfach mit muslimfeindlichen Schmierereien beschmiert.
Luc Ferrier ist überzeugt, dass seine Arbeit gegen solche Vorbehalte wirksam ist. Er möchte denen entgegentreten, die behaupten, dass "der Westen" und "der Islam" nicht miteinander kompatibel seien. "Was wir herausgefunden haben, beweist das Gegenteil." Er frage sich immer, so der Belgier: "Wenn sich Soldaten der unterschiedlichsten Konfessionen damals unter solch grauenvollen Bedingungen in Schützengräben und Schlachtfeldern akzeptieren und gegenseitig stützen konnten, was hält uns eigentlich heute davon ab, dasselbe zu tun?"