"Geist von Gezi" vor Reifeprüfung
31. Mai 2015Vor der Zerstörung ist der Gezi-Park am zentralen Taksim-Platz in Istanbul vorerst gerettet. Acht Tote und hunderte zum Teil schwer verletzte Menschen waren der traurige Preis dafür. Die Bilder von den schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der unverhältnismäßig hart operierenden Polizei gingen um die Welt. Die Proteste griffen auch auf weitere Großstädte in Anatolien über, wo die Polizei - unterstützt von Anhängern der religiös-konservativen Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) - ebenfalls überaus hart vorging.
Der inzwischen zum Staatspräsidenten aufgestiegene damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat den "Geist von Gezi" unterschätzt, der ihm die Gefolgschaft verweigerte. Erdogans Bauwut wurde zumindest hier in die Schranken gewiesen. An diesem Sonntag jährt sich der Beginn des Großangriffs der Polizei auf Zeltlager junger Umwelt- und Friedensaktivisten und auf normale Bürger jeden Alters im Gezi-Park zum zweiten Mal.
Zeit um Geschichte zu schreiben
Auf dem Taksim-Platz und den Zufahrtsstraßen wimmelt es von Polizisten in Uniform oder Zivilkleidung. Sie sind offenkundig dazu bereit, erneut "Geschichte zu schreiben", wie es der damalige Istanbuler Provinzgouverneur Hüseyin Avni Mutlu in seiner Dankesrede an die Polizei im Stil eines Motivationscoachs formuliert hatte.
Eine Woche vor den Parlamentswahlen am 7. Juni will das Aktionsbündnis "Taksim Solidarität" der Polizei aber "keine Gelegenheit dazu bieten", sagt Can Atalay als einer der vielen Anwälte dieser Organisation. Alles werde friedlich verlaufen, zumindest auf anderen öffentlichen Plätzen und Parks der rund 20-Millionen-Metropole am Bosporus: "Gezi hat dafür gesorgt, dass die junge Generation sich wieder politisch engagiert, dass die Menschen ihnen zustehende Rechte in Anspruch nehmen."
Gezi hat vielen die Augen geöffnet
Der Verzicht auf jede Art von Gewalt bei den Feiern zum zweiten Jahrestag der Ereignisse verdeutlicht, dass der "Geist von Gezi" vor einer Reifeprüfung steht. Warum ist aber aus der Widerstandsbewegung keine politische Partei hervorgegangen, wie einst in Deutschland die Grünen aus der Anti-Atomkraft- und Anti-Aufrüstungsbewegung?
"Die junge Generation kennt nur die AKP Erdogans. Gezi hat ihr die Augen geöffnet", meint der Journalist Ismail Saymaz von der Zeitung "Hürriyet", der bei den Protesten dabei war. Was aber noch fehle, sei ein politisches Feld zur weiteren Entwicklung. Dieses könnte die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) sein. Sie bietet kein klares, zeitgenössisches Charisma mit Abstand zum Nationalismus im Sinne des Republik-Gründers Mustafa Kemal Atatürk. Die Gezi-Bewegung orientiert sich deshalb zusehends an der Demokratischen Partei der Völker (HDP) unter Führung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtas.
"Menschen haben dank Gezi ihre Ketten gesprengt"
Wenn der "Geist von Gezi" der HDP tatsächlich bei den bevorstehenden Parlamentswahlen am 7. Juni über die Zehn-Prozent-Hürde verhilft, könnte Erdogans AKP nach 13 Jahren ihre absolute Mehrheit verlieren.
Ayhan Erdogan als einer der führenden Anwälte der Gezi-Opfer warnt davor, dass der Staatspräsident Zusammenstöße provozieren könnte: "Anders kann er die HDP nicht mehr als Unterstützer des Chaos und der Staatsfeinde beschuldigen und schwächen." Der Anwalt vertritt die Familie von Ali Ismail Korkmaz, der bei Protesten in Eskisehir von Händlern, Geschäftsleuten und Polizisten so brutal zusammengeschlagen wurde, dass er infolge seiner schweren Verletzungen starb.
Zwei Polizisten wurden inzwischen zu zwölf beziehungsweise 13 Jahren Haft verurteilt, drei der Händler und Geschäftsleute zu jeweils acht Jahren und einer zu dreieinhalb Jahren. "Es gibt überall viele religiös-fanatische Schlägertrupps als Anhänger der AKP, die friedliche Demonstrationen attackieren und Zusammenstöße auslösen können", warnt der Anwalt. Doch er traut den Menschen zu, sich gewaltfrei gegen Erdogan zur Wehr zu setzen: "Die Menschen haben Dank Gezi ihre Ketten gesprengt."
Der Fanclub "Carsi" des ältesten Istanbuler Traditionsvereins Besiktas will nach den Worten ihres Anführers Cem Yakiskan "auf keinen Fall irgendwelche Zusammenstöße". Gegen ihn und 34 weitere Carsi-Mitglieder laufen noch Gerichtsverfahren wegen eines vermeintlichen Putschversuchs zum Sturz der demokratisch gewählten Regierung, nachdem sie sich an den Gezi-Protesten aktiv beteiligt und auch Zusammenstößen nicht aus dem Weg gegangen waren. Yakiskan und drei weiteren Weggefährten droht "erschwerte lebenslange Haft", was mindestens 49 Jahre hinter Gittern bedeuten würde.
Sammelbecken friedlicher Aktivisten aller Lager
"Erdogan hat meine Macht überschätzt", sagt der 49-Jährige, weil er "lieber Besiktas zum türkischen Fußballmeister machen würde als irgendwelche Regierungen zu stürzen". Die 1982 gegründete Carsi-Bewegung hilft Schulen in Anatolien mit Spendenaktionen, engagiert sich für den Tierschutz, für Hilfen bei Naturkatastrophen und gegen den Rassismus. "Wir sind politisch geworden, weil wir uns gegen Unrecht auflehnen", sagt Yakiskan.
In der Anklageschrift ist auch davon die Rede, dass Carsi-Aktivisten einen gepanzerten Wasserwerfer sowie schwere Baumaschinen in ihre Gewalt gebracht hätten, "um das Ministerpräsidentenbüro am Dolmabahce-Palast am Bosporus zu attackieren". Inan Kaya, einer der Rechtsvertreter der Carsi-Gruppe, bezeichnet die Anklageschrift als Farce: "35 Seiten lang ist die Anklageschrift, 21 Seiten davon sind voll mit Namenslisten und Angaben zu den 35 Angeklagten. Es werden 49 Jahre gefordert, ohne 49 Zeilen mit konkreten Beschuldigungen."
Die Reifeprüfung für den "Geist von Gezi" hängt davon ab, ob er sich den Provokationen widersetzen wird. Eine politische Führungsfigur soll es nicht geben, weil Gezi sich nicht als politische Ideologie versteht, sondern als Sammelbecken friedlicher Aktivisten aus allen politischen Lagern. Der "Geist der 68er" hat seinerzeit Europa verändert und den Gesellschaften neue politische Perspektiven eröffnet. Diesen Anspruch erheben die Vertreter des "Geistes von Gezi" auch.