Die Schatten des deutschen Kolonialismus
19. Juni 2020Die Statue des britischen Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol wird in den Hafen geworfen; die Figur von Christoph Kolumbus in Boston wird geköpft; die Stadtväter von Antwerpen entfernen aus Sorge vor Zerstörung vorsorglich selbst ein Standbild von König Leopold II, der für schlimmste Gräueltaten in seiner "privaten" Kongo-Kolonie verantwortlich gemacht wird. Koloniale Symbole weltweit stehen derzeit als Ausdruck für weißen Rassismus unter Druck. Lange hat sich kaum jemand für sie interessiert. Das hat sich spätestens mit dem gewaltsamen Tod des Schwarzen George Floyd durch einen weißen Polizisten in den USA geändert.
Deutschland hatte eine nur kurze Kolonialgeschichte, von 1884 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, als es seine Kolonien in Afrika, Ozeanien und Ostasien wieder abgeben musste. Aber auf seinem Höhepunkt war das deutsche Kolonialreich immerhin das viertgrößte der Welt. Und Spuren davon gibt es bis heute.
Was tun mit der "Lüderitzstraße"?
Nach wie vor sind Straßen und Plätze in Deutschland nach Kolonisatoren wie Carl Peters, Adolf Lüderitz oder Gustav Nachtigal benannt. Der Befehlshaber der Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika, Paul von Lettow-Vorbeck, war bis vor wenigen Jahren Namensgeber von Kasernen und Schulen. Es gibt nach wie vor eine Statue von Hermann von Wissmann, einem ehemaligen Gouverneur der Kolonie, in Bad Lauterberg imHarz und eine Büste von Nachtigal, der zeitweise Reichskommissar für Deutsch-Westafrika (heute Kamerun und Togo) war, in Stendal in Sachsen-Anhalt.
Die Diskussion um den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit ist in vollem Gange: Was soll mit den Standbildern, Straßennamen und mit der kolonialen Raubkunst in Museen geschehen? Schließlich die Frage, ob Deutschland sich für koloniale Verbrechen wie die Niederschlagung des Herero- und Nama-Aufstands in Südwestafrika oder des Maji-Maji-Aufstands in Ostafrika mit zusammen hunderttausenden Toten entschuldigen und Entschädigungszahlungen leisten sollte. All das sind Schatten der deutschen Kolonialgeschichte, auch wenn diese schon mehr als 100 Jahre zurückliegt.
Widerstand gegen Umbenennungen
Im so genannten "Afrikanischen Viertel" in Berlin gibt es bereits seit Jahren Streit um die Umbenennung von Straßen. Die Bezirksverordnetenversammlung hat bereits vor gut zwei Jahren beschlossen, sie nach Widerstandskämpfern gegen die deutsche Kolonialherrschaft umzubenennen.
Doch viele Bewohner und Geschäftsinhaber in den Straßen sind dagegen, oft nicht aus politischen Gründen, sondern, weil sie die Kosten von Adressenänderungen vermeiden wollen. Manche wollen auch einfach aus Gewohnheit an den alten Namen festhalten. Die Initiative Pro Afrikanisches Viertel hat einen kreativen Weg vorgeschlagen, wie die Namen bleiben könnten: Die Lüderitzstraße soll nach der namibischen Stadt gleichen Namens heißen, der Nachtigalplatz nach dem Theologen Johann Nachtigal. Und die Petersallee erinnert bereits seit 1986 offiziell nicht mehr an den Kolonialisten Carl Peters, der in Ostafrika brutal geherrscht hatte. Sie ist jetzt nach Hans Peters benannt, einem Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Manche meinen, damit weiche man dem Problem aus. Endgültig ist jedenfalls noch nichts, der Namensstreit hält an.
Kaum jemand möchte alles auslöschen
In Hamburg auf dem Gelände der ehemaligen Lettow-Vorbeck-Kaserne hat man Erklärtafeln zu den Büsten von Männern wie Paul von Lettow-Vorbeck und Lothar von Trotha gestellt, die an der Niederschlagung von Aufständen in den deutschen Kolonien maßgeblich beteiligt waren. Wie es mit dem Umgang damit weitergeht, ist noch nicht klar. Dem Senat geht es jedenfalls grundsätzlich darum, dass diese schwierige Geschichte auch künftigen Generationen im Bewusstsein bleibt: weder Glorifizierung noch Tilgung sollen das Konzept sein, sondern eher Mahnmale und Erinnerung.
"Gegendenkmäler" als Lösung?
Weiter geht der Verein Postkolonial. Er ist in rund 20 deutschen Städten aktiv. Postkolonial setzt sich etwa in Hamburg, so heißt es auf der Webseite, für eine "umfassende Dekolonisierung des Hamburger Stadtraums (…) und die Darstellung der Geschichte des antikolonialen Widerstandes sowie für ein ehrendes Gedenken an die Opfer von Kolonialismus und Rassismus" ein. Das schließt Straßenumbenennungen ein, aber es geht dem Verein nicht darum, alle Spuren des Kolonialismus einfach auszulöschen. Für Christian Kopp, Sprecher von Postkolonial in Berlin, kommen etwa auch Gegendenkmäler infrage. Nur eine kritische Informationstafel vor ein Denkmal zu stellen, ist ihm eindeutig zu wenig.
Jürgen Zimmerer, Historiker und Afrikawissenschaftler an der Universität Hamburg, sieht es so: "Als Historiker habe ich ein Interesse daran, dass Denkmäler als historische Quellen erhalten bleiben. Allerdings müssen Sie radikal dekonstruiert und entheroisiert werden, so dass ihre verherrlichende Funktion entfällt. Man könnte sie beispielsweise auf den Kopf stellen oder hinlegen."
Ein Beispiel für ein Totschweigen ist das Grab von Lothar von Trotha in Bonn. Mit seinem "Vernichtungsbefehl" von 1904 hatte er einen Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika grausam niedergeschlagen: An seinem Grab gibt es keinerlei Hinweis auf diese Vergangenheit.
Die AfD spricht von "Afrika-Schuldkult"
Einige Historiker haben dies als ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Die Bundesregierung erkennt das bisher aber nicht offiziell an. Der namibische Präsident Hage Geingob hat Anfang dieses Monats in Windhuk gesagt, Deutschland sei nun dazu bereit, genauso wie zu einer Entschuldigung. Aus Berlin war dazu allerdings nichts zu hören. Bisher hat die Bundesregierung Entschädigungszahlungen vor allem mit der Begründung abgelehnt, Namibia habe von umfangreicher Entwicklungshilfe profitiert.
Die Parteien in Deutschland stehen einem kritischen Umgang mit der Kolonialvergangenheit insgesamt offen gegenüber, mit einer deutlichen Ausnahme: der AfD. Zur jetzigen Diskussion um Denkmäler sagte Alexander Gauland, der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Bundestag, kürzlich: "Versuche, ein von allen störenden Aspekten bereinigtes Geschichtsbild durchzusetzen, kannte man bis lang nur aus totalitären Systemen." Und der AfD-Abgeordnete Gottfried Curio beklagt sich in einem Video über seiner Ansicht nach linke Versuche, den Deutschen einen "Afrika-Schuldkult" einzuimpfen.
Welche Maßstäbe kann man anlegen?
Aber kann man überhaupt historische Persönlichkeiten und Epochen mit heutigen Maßstäben messen? Jürgen Zimmerer meint eindeutig ja, "sonst dürften wir uns ja auch von Hitler, Himmler und Co nicht distanzieren oder diese verurteilen". Es gehe aber in der gegenwärtigen Debatte vor allem darum, "ob die historischen Persönlichkeiten heute als zu ehrende Vorbilder geeignet sind, und damit sind unsere heutigen Maßstäbe maßgeblich. Wir verhandeln in Denkmälern auch unsere eigenen Werte und Vorstellungen".
Der deutsche Kolonialismus war bisher ein wenig beachteter Teil der Geschichte. Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, gehört zu denen, die froh sind, dass sich die deutsche Gesellschaft durch die Proteste überhaupt damit befasst. Zwar könne man den Umgang in Deutschland und Ländern wie den USA oder Großbritannien mit Denkmälern nicht vergleichen. Doch inzwischen rücke der deutsche Kolonialismus endlich ins öffentliche Bewusstsein. Darin sieht Claussen eine große Bildungsaufgabe.