"Die Reparationsschuld ist nicht erledigt"
7. November 2018DW: Die Regierungen in Athen und Warschau halten die Reparationsfrage für nicht erledigt. Was sind die wichtigsten Unterschiede in der Reparationspolitik und - schuld bezüglich Griechenland und Polen?
Karl Heinz Roth: Die Zerstörungen in Polen waren zweifellos die größten. Dort sind die Deutschen mit einer systematischen Planung vorgegangen, dem Generalplan Ost. Sie wollten Polen germanisieren. Anders in Griechenland, wo die Deutschen nur Flotten- und Luftwaffenstützpunkte in Thessaloniki und auf Kreta einrichten wollten. Ansonsten suchten sie nach einer Kollaborationsmöglichkeit. Sie wurden jedoch durch die Vehemenz des Widerstands völlig überrollt und haben dann besinnungslos Massaker begangen. Es bestand jedoch keine Zerstörungsplanung dahinter.
Hinzu kommen die Zahlen. In Polen sind durch Gewalttaten der Nazi-Okkupanten 5,4 Millionen der Zivilbevölkerung ermordet worden, in Griechenland 330.000. Der quantitative Unterschied bezieht sich auch auf andere Aspekte. Sowohl Polen als auch Griechenland haben das Schicksal der sogenannten kleinen Alliierten erlitten. Sie wurden in der Reparationspolitik an den Rand gedrängt und das hat sich bis heute durchgehalten.
Sie haben mit Ihrem Buch über Reparationen für Griechenland zu Beginn der Schuldenkrise angefangen und hatten die Idee, dass man die Schulden mit der Besatzungsanleihe, zu der die griechische Nationalbank gezwungen worden ist, begleichen soll. Wie realistisch war der Vorschlag?
Er hatte einiges für sich, ich bin jedoch davon abgerückt. Der Vorschlag kam unter anderem von Ökonomen, die die Bundesregierung an massive Schuldenerlasse erinnert haben. Beim Londoner Schuldenabkommen wurden der BRD über 50 Prozent aller Schulden erlassen. Inzwischen bin ich der Meinung, dass es sich um unterschiedliche Probleme handelt. Die Entschädigung ist ein ethisches Problem und soll nicht mit aktuellen ökonomischen Problemen verbunden werden. In der neuen Ausgabe diskutiere ich auch mit Ökonomen, die bei ihrer Berechnung der Reparationsschulden den errechneten Wert der Zerstörung und der humanitären Schäden in ein fiktives Darlehen umgewandelt und dann verzinst haben. Dadurch wird die Reparationsschuld kommerzialisiert. Wir haben in eigenen Berechnungen davon abgesehen, die Zinsen mit zu berücksichtigen. Das ist manchmal für Reparationsgläubiger nachteilig, aber unangreifbar.
Zu welchen Zahlen sind Sie gekommen?
Der Basiswert aller Zerstörung und Schäden aus dem Zweiten Weltkrieg, den die Deutschen zu verantworten haben, beläuft sich auf knapp 500 Milliarden US-Dollar im Preisstand von 1938. Das sind heute fast 7,5 Billionen Euro ohne Zins und Zinseszins. Für Polen rechnen wir mit 78 Milliarden US-Dollar für 1938. Das sind heute eine Billion Euro. Diese Zahl nennt auch die polnische Parlamentsgruppe um Mularczyk. In Griechenland ist das heute ein Betrag von 190 Milliarden Euro. Dadurch, dass wir keine Zinsberechnung haben, sind wir im Fall Griechenland deutlich niedriger als die offiziellen Zahlen, die sich auf 380 Milliarden Euro belaufen. Es wird nie möglich sein, die Schuld in diesem Umfang zu tilgen. Es wird immer nur darum gehen, einen kleinen Teil, vielleicht ein Zehntel oder ein Fünftel zu zahlen, weil Deutschland eine Entschädigungsverpflichtung hat.
Es gibt Ideen, dass man statt über Reparationen lieber über Entschädigungen für bestimmte Opfergruppen oder Renovierung bestimmter Bauten spricht.
Das wäre ein Vorschlag. Auf einer Konferenz in Warschau im September wurde berichtet, dass in Polen noch etwa 40.000 ehemalige polnische KZ-Häftlinge leben, die nicht entschädigt worden sind, weil sie nicht jüdischer Nationalität gewesen sind. Sie sind überwiegend verarmt und krank. Die Bundesrepublik müsste jetzt einen guten Willen zeigen und ihnen einen Rentenzuschuss zahlen. Genauso die Renovierung von Gebäuden und die Bereitstellung von Mitteln für die Unterstützung von polnischen Gedenkstätten. Das wäre ein erster Schritt.
Anfang 2018 einigten sich der polnische und der deutsche Außenminister, dass sich Experten mit der Diskussion über Reparationen befassen sollen. War die Konferenz in Warschau, veranstaltet vom West-Institut (Instytut Zachodni) in diesem Sinne ein Anfang?
Ich hoffe. Anfangs hatte ich große Vorbehalte. Verschiedene Historiker haben mich gewarnt, man würde mich instrumentalisieren. Es gibt diese aktuelle politische Diskussion, aber durch meine Kontakte mit polnischen Historikern seit den 1980ern weiß ich, dass diese Frage unabhängig von der Konjunktur einer jetzigen Regierung ist. Deswegen bin ich hingefahren. Es war teilweise eine turbulente wissenschaftliche Diskussion, aber sie war offen und fair. Wir haben eine Ausgangsbasis geschaffen.
Die deutsche Regierung erkennt die moralische Schuld für Naziverbrechen, hält aber die Reparationsfrage für abgeschlossen. Auf die Forderungen eines Landes zu antworten, wäre wie die Büchse der Pandora zu öffnen.
Diese Büchse muss geöffnet werden. Das können nur erste Schritte sein, in Richtung Griechenland und Polen. Es gibt noch andere Länder, in denen ähnliche Initiativen gelaufen sind: Tschechien, Ungarn, Italien, Ex-Jugoslawien. Meines Erachtens geht es um eine multilaterale Lösung. Optimal wäre ein gemeinsames Vorgehen Griechenlands, Polens, Ex-Jugoslawiens, Italiens und anderer zu einer multilateralen Konferenz im Anschluss an den 2-plus-4-Vertrag. Der Vertrag war faktisch ein Friedensvertrag und in ihm wurde die Reparationsfrage ausgeklammert. Das war eine Entscheidung zum Nachteil der Staaten, die keine Signaturstaaten gewesen sind. In solchem Fall ist der Vertrag für diese Länder nicht bindend. Das ist völkerrechtlich eindeutig. Das weiß auch die Bundesregierung. Sie weiß, dass die Reparationsschuld nicht verjährt. Sie ist auch nicht erledigt. Sie ist nach wie vor offen. Berlin fürchtet nichts mehr, als ein gemeinsames Vorgehen der kleinen Alliierten. Es gibt auch ein Gremium dafür, das ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die OSZE hat eine Schiedskommission, die offensichtlich noch nie einberufen wurde. Sie hätte dabei den Vorteil, dass auch Länder, die nicht in der EU sind (wie Weißrussland oder Ukraine), mit an den Verhandlungstisch kommen.
Zuerst wollen die parlamentarischen Ausschüsse Griechenlands und Polens kooperieren. Sie zeigten sich aber schon von Syrizas Ehrgeiz in der Reparationsfrage enttäuscht. Was kommt jetzt?
Es scheint, dass jetzt in der Tat eine Initiative gestartet wird. Zuerst wird der Abschlussbericht des griechischen Parlaments veröffentlicht. Und ich hoffe, bald auch der polnische und dass beide Parlamente einen Beschluss fassen werden, mit diesen Abschlussberichten Verhandlungen zu fordern. Polen und Griechenland sind Promotoren in diesem Verfahren. Andere Länder haben resigniert. Tschechien zum Beispiel hat erklärt, dass es Polen nicht unterstützen wird, übrigens nach dem Besuch eines deutschen Spitzenpolitikers. Ich war wirklich enttäuscht über Syriza. Das Zurückweichen soll unter extremem Druck geschehen sein. Und mir ist klar, dass kein einzelnes Land, weder Griechenland noch Polen, allein in der Lage ist, die deutsche Hegemonialmacht so unter Druck zu setzen, dass sie sich zu solchen Auseinandersetzungen bereit erklärt. Nur ein koordiniertes Vorgehen hat eine Chance.
Die Diskussion über Reparationen in Polen verläuft sehr emotional. In deutschen Expertenkreisen auch?
Ich bin massiv angegriffen und denunziert worden. Es hat Fakes bei Besprechungen des Reparationsbuches gegeben. Auf der anderen Seite bin ich bei Buchvorstellungen auf breite Resonanz gestoßen. Es überwiegt aber Schweigen.
Karl Heinz Roth, Historiker und Mediziner, ist Mitarbeiter der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Bremen. Er ist Co-Autor des Sachbuchs "Reparationsschuld" (2017), dass bald auch auf griechisch, englisch und polnisch erscheinen soll.