"Die Pfiffe stören das ganze Team"
13. Juni 2018Mats Hummels stoppt den Ball, nimmt den Kopf hoch und passt genau in die Schnittstelle der Abwehr. Marco Reus, der gerade in Position gelaufen war, versenkt das Spielgerät gekonnt im Tor. Auf der Tribüne des Trainingsplatzes von ZSKA Moskau im russischen Vatutinki brandet Jubel auf. Es wird laut. Rund 300 Fans - hauptsächlich Kinder einer deutschen Schule - feiern den Weltmeister ausgelassen. Nicht nur bei dieser öffentlichen Einheit, auch sonst steht die DFB-Elf um Trainer Joachim Löw bei dieser WM mehr als sonst im Fokus, der Druck ist größer.
Nicht nur weil Deutschland als Titelverteidiger antritt, sondern momentan auch weil die "Causa Erdogan" um die Nationalspieler Ilkay Gündogan und Mesut Özil immer noch wie ein Schatten über dem Team schwebt. "Meine Aufgabe ist es jetzt, diese Spieler, die sicher unter der Situation gelitten haben, beide in gute Form zu bringen", sagt Löw bei der Auftaktpressekonferenz im Teamhotel. "Es kann sein, dass diese Spieler weiter mit einigen Pfiffen begleitet werden - dann ist das eben so. Ich würde es mir aber anders wünschen."
Kleinert: "Das stört möglicherweise die ganze Mannschaft"
Beide Spieler seien in der Mannschaft anerkannt, ergänzt ein sichtlich genervter Bundestrainer. "Alle wissen, dass Ilkay und Mesut für unsere Werte stehen." Beim DFB will man dieses Thema gerne für beendet erklären, auch weil solche "Nebengeräusche" bei der Mission Titelvereteidgung nicht gerade hilfreich sind. Für den Sportpsychologen Prof. Jens Kleinert ist in einer solchen Situation besonders die Gemeinschaft gefordert.
"Entscheidend ist, dass das innere Team funktioniert. Je stärker das ist, desto weniger kommen Störsignale von außen an die Mannschaft heran", erklärt er im DW-Interview und vermutet: "Wenn ein Mitspieler ständig ausgepfiffen wird, kann das unbewusst auch auf die Nebenspieler wirken, die dann Pässe nicht spielen, um weitere Pfiffe zu vermeiden. Letztlich stört es dann also die ganze Mannschaft."
Vatutinki ist kein Campo Bahia
Der DFB setzt auf die Ruhe und Abgeschiedenheit von Watutinki. Die Nationalmannschaft bereitet sich rund 40 Kilometer entfernt von Moskau auf das Turnier vor. In Watutinki gibt viele Plattenbauten, Bäume, aber keine störenden Nebengeräusche, zumindest nicht innerhalb des luxuriösen Hotelkomplexes. "Wir haben hier alles, was wir brauchen. Das ist für mich das Wichtigste. Wir haben gute Trainingsmöglichkeiten, Ruhe und das Essen stimmt. Die Spieler haben hier alle Möglichkeiten, sich auf Spannung zu bringen und gut zu regenerieren", berichtet Löw zufrieden.
Der 58-Jährige vermeidet bewusst Vergleiche zum DFB-Camp in Brasilien vor vier Jahren, wo das Team eine einzigartige Wohlfühloase mit dem Campo Bahia erschaffen hatte. Er sei sich sicher, dass sich seine Mannschaft auch in Watutinki in aller Ruhe und sehr konzentriert auf die Spiele vorbereiten könne. Sportpsychologe Kleinert sieht das ähnlich. Der Wohlfühlfaktor, der für ein erfolgreiches Turnier grundlegend ist, sei nicht immer von äußerlichen Bedingungen abhängig, erklärt er. "Es ist nicht nur abhängig von Wetter, Strand und Palmen, sondern viel mehr von der Stimmung und Mannschafts-Atmosphäre", so Kleinert.
Der Stärkere jagt den Schwächeren
Für Löw sind die Bedingungen also gut. So gut, dass es auch zur Titelverteidigung reicht? Der Kader der Nationalmannschaft habe, nach Aussage einiger Spieler, mehr Qualität als in den vergangenen Jahren. Teammanager Oliver Bierhoff zeichnete im Trainingslager vor einigen Wochen das Bild des "gejagten Weltmeisters", um zu verdeutlichen, dass diese WM eine der schwersten für die Nationalmannschaft sei. Eine ungünstige Formulierung meint Sportpsychologe Kleinert. "Eigentlich müsste man es umdrehen. Derjenige, der mehr Power hat, der mehr Kraft hat, der jagt die anderen Teams", erklärt er. "Der Weltmeister jagt also die anderen und nicht andersherum. In der Natur ist es doch auch so, dass der Stärkere die Schwächeren jagt." Der Bundestrainer bringt es auf den Punkt und sagte bereits in der Vergangenheit: "Wir wollen den Titel nicht verteidigen, sondern gewinnen."
Kleinert: "Lukas Podolski war immens wichtig"
Auch wenn die letzten Testspiele den einen oder anderen Zweifler wieder auf den Plan gerufen haben, die Qualität im DFB-Team ist unbestritten. Toni Kroos, Sami Khedira, Jerome Boateng, Mats Hummels oder auch Torwart Manuel Neuer - alle zählen auf ihren Positionen zweifelsohne zu den Besten der Welt. Die Kunst für Joachim Löw besteht nun darin ein funktionierendes Gesamtkonstrukt zu erstellen. Dabei sind besonders die Spieler mit Führungspotential seine ersten Ansprechpartner.
"Wir wissen, dass es unterschiedliche Führungsrollen gibt. Es gibt einen taktischen Führer, der auf dem Platz das Heft in die Hand nimmt - ein Kroos oder auch Khedira zum Beispiel - es gibt einen Führer, der auch in der Öffentlichkeit öfter mal das Wort ergreift", zählt Kleinert auf. Eine zentrale Aufgabe, besonders in schwierigen Situationen, wird dem emotionalen Leader zu Teil, "der seine Kollegen in den entscheidenden Momenten pusht und motiviert." Da habe Lukas Podolski vor zwei Jahren bei der EM in Frankreich einen eine immens wichtige Aufgabe übernommen, so der Sportpsychologe.
Manuel Neuer wichtigster Leader
Eine der entscheidenden Persönlichkeiten im Weltmeister-Kader ist aber Torhüter Neuer. Mit dem 32-Jährigen, der lange um seine endgültige Teilnahme zittern musste, hat Löw einen Spieler zwischen den Pfosten stehen, der den Unterschied machen kann - nicht nur in sportlicher Hinsicht. "Er besitzt eine ähnliche Souveränität wie Oliver Kahn damals. Er kann auf eine ruhige, aber sehr bestimmte Art seine Mitspieler auch mal zurecht weisen", sagt Kleinert. "Neuer hat eine unglaubliche Ausstrahlung auf dem Spielfeld."
Insgesamt habe man eine "gute Energie" innerhalb der Mannschaft, schwärmt Löw und kann den Start des Turnieres kaum abwarten. Auch Özil und Gündogan dürften das erste WM-Spiel der Nationalmannschaft herbeisehen. "Je länger das Turnier in Russland läuft, desto geringer werden Einflussfaktoren von außen", beschreibt der Sportpsycholge. Das sei ein psychologischer Effekt. "Je näher ich meinem Ziel komme, desto mehr fokussiere ich."
Nicht nur die sportpsychologische Sicht dürfte dem DFB also Hoffnung machen, auch die Trainingseindrücke der ersten Einheit in Watutinki stimmen die Beobachter positiv, denn die anvisierte gute Stimmung ist - von außen betrachtet - bereits vorhanden. Auch bei Özil und Gündogan.