Als der Moderator zur unvermeidlichen Erdogan-Frage ansetzt, verfinstert sich die Miene des Bundestrainers. ARD-Mann Alexander Bommes fragt Joachim Löw, wie es nach den erneuten Pfiffen gegen seinen Spieler Ilkay Gündogan weitergehe. Löw seufzt, versucht möglichst ruhig zu klingen, nachdem er während des Spiels wild in Richtung Publikum gestikuliert und den pfeifenden Fans ein paar sehr böse Blicke zugeworfen hatte. "Wir haben viel darüber gesprochen", führt er aus und meint damit die Foto-Affäre Özil-Gündogan-Erdogan. Er will damit - zum x-ten Mal - untermauern, dass der Fall intern aufgearbeitet wurde und jetzt abgeschlossen ist: "Aber jetzt muss der Blick nach vorne gehen. Dann ist das Thema irgendwann mal vorbei, ok?" Ein verständlicher, aber frommer Wunsch. Denn eins sollten sie aber beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) inzwischen verstanden haben: Diese Affäre lässt sich nicht aussitzen.
Und zwar nicht, weil Medien ein Sommerloch füllen müssen, wie es die Tage mal beim DFB hieß. Nein, weil die Fans sauer sind. 57. Minute im Leverkusener Testspiel Deutschland - Saudi-Arabien, der Generalprobe vor der WM in Russland: Löw wechselt Gündogan ein und ein Pfeifkonzert beginnt. Während Mitspieler Mesut Özil verletzt fehlt, wird Gündogan in Leverkusen ausgebuht. Die Pfiffe der eigenen Fans begleiten Gündogan - wie schon beim Auswärtsspiel in Österreich vor sechs Tagen - bei fast jeder Aktion. Die Höchststrafe für einen Spieler und ein Albtraum für den Bundestrainer. Der klatscht demonstrativ für jede Aktion Gündogans Beifall und gibt sich erbost über die Pfiffe von den Rängen. Man kann Löw absolut verstehen. Für eine erfolgreiche WM braucht er den Rückhalt der Fans und vor allem Spieler, die auf ihre sportlichen Aufgaben konzentriert sind. Aber: Es sieht ganz so aus, als müsse die Weltmeister-Elf Erdogan als Ballast mit nach Russland nehmen. Und daran ist man beim DFB leider ein Stück weit selbst schuld.
Gündogan und Özil müssen sich nun bekennen
Was auch immer Özil und Gündogan ritt, grinsend neben Recep Tayyip Erdogan für dessen Wahlkampf zu posieren und ihm ein Trikot mit der Aufschrift "Für meinen Präsidenten, hochachtungsvoll" zu überreichen, es hat fatale Folgen. Ein Riss geht durch die eigentlich innige Beziehung der Deutschen zu ihrer Nationalelf. Kurz nach Veröffentlichung der Erdogan-Fotos forderte eine Mehrheit in einer repräsentativen Umfrage in Deutschland sogar den Ausschluss von Özil und Gündogan aus dem Team, zwei genialen und verdienten Fußballern wohlgemerkt. Schnell wurde ein Treffen mit dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier arrangiert. Doch, anders als beim DFB angenommen, reichte das nicht. Viele Deutsche schütteln noch immer den Kopf über die beiden Spieler, die eigentlich Deutschland repräsentieren sollen, aber gleichzeitig mit einem Mann posieren, der in seinem Land die Meinungsfreiheit mit Füßen tritt, politische Gegner und Andersdenkende wegsperrt und faktisch den Rechtsstaat abgeschafft hat. Große Teile der deutschen Öffentlichkeit erwarten dafür eine Entschuldigung, mindestens aber eine Erklärung, zurecht. Aber die kommt nicht.
Ilkay Gündogan zeigte in einem Interview zwar Verständnis für die pfeifenden Fans, bewegte sich aber zügig in Richtung Opferrolle. Echte Reue war nicht zu hören. Und Özil? Schweigt weiter wie ein trotziges Kind. Der DFB mit Manager Oliver Bierhoff versuchte die Affäre für beendet zu erklären - vergeblich. Wenige Tage vor dem Start der WM in Russland ist es an der Zeit für ein klares Signal des DFB: Nur mit einem offensiven Schritt nach vorne kann die Nationalelf die erhitzten Fan-Gemüter wieder beruhigen. Gündogan und Özil müssen sich gemeinsam und öffentlich zu ihrem Land und dessen Werten bekennen - wohlgemerkt das, für das sie spielen: Deutschland.
Erdogans großer Coup
Sonst reist am Ende jemand mit zur WM, dessen Land sich gar nicht für das Turnier qualifiziert hat: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, als Schattenmann der DFB-Elf. Schon jetzt kann er einen großen politischen Coup feiern. Mehr als bei jeder Forderung nach Wahlkampf-Auftritten in Deutschland ist es ihm mit ein paar Fotos gelungen, einen Keil in das Land mit der größten türkischen Exil-Gemeinde zu treiben. Denn die anhaltenden Pfiffe gegen türkischstämmige Spieler dürften in Deutschland lebende Türken potentiell in Erdogans Arme treiben. Genau das will der Amtsinhaber vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei am 24. Juni. Es ist Zeit, diesen Spuk mit klaren Worten zu beenden, damit sich (Fußball-)Deutschland wieder dem Wesentlichen zuwenden kann: der WM.
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