Niederlande: Rutte trotz Skandal Wahl-Favorit
16. März 2021Viele nehmen Neujahr zum Anlass für einen Neuanfang. Auch für Kristie Rongen war es der Tag, an dem sie sich entschied, dass es so nicht weitergehen könne: "Ich ging allein spazieren und sagte mir: Es reicht!" Stunden zuvor hatte sie darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Stattdessen suchte sie sich am nächsten Tag ärztliche Hilfe. Das war im Jahr 2015.
Rongen gehört zu den 20.000 Eltern in den Niederlanden, die zwischen 2013 und 2019 zu Unrecht beschuldigt wurden, unrechtmäßig Kindergeld bezogen zu haben. Die Betrugsvorwürfe trafen Familien sowohl finanziell als auch psychisch. Rongen eingeschlossen: Sie sollte innerhalb von zwei Jahren 92.000 Euro, einschließlich 30.000 Euro Zinsen zurück zahlen - bei einem Nettoeinkommen von 1900 Euro im Monat.
Gnadenlos buchte die Steuerbehörde der alleinerziehenden Mutter jeden Monat 900 Euro von ihrem Konto ab. Eines Tages dann, erzählt sie, hätten Polizei und Steuerbeamte sie auf der Autobahn angehalten und ihr Auto beschlagnahmt. Wie sie nach Hause kommen sollte, hätten die Beamten ihr nicht sagen können.
"Ich habe so hart gearbeitet, um die Geldbuße zu bezahlen, aber es war nie genug", erzählt Rongen. "Sie haben mich fertiggemacht."
Regierung zurückgetreten
Der Kindergeldskandal kam erst 2019 ans Licht. Die Steuerbehörde steht zudem in der Kritik, weil sie dabei offenbar Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft bei der Datenauswertung diskriminierte.
Kurz vor den Parlamentswahlen vom 15. bis zum 17. März - der Urnengang wird über drei Tage gestreckt, um die Ansteckungsgefahr zu verringern - trat daher im Januar die Regierung geschlossen zurück.
Es sind schon Politiker über viel weniger gestolpert, doch wenige Tage vor der Wahl ist die Partei des - nun geschäftsführenden - Ministerpräsidenten Mark Rutte der klare Favorit. Es spricht für Ruttes außerordentliches politisches Talent, dass er unter diesen Umständen seiner vierten Amtszeit als Regierungschef entgegensehen kann.
Bleibt "Teflon-Mark" ungeschoren?
In einer Studie der Vrije Universiteit Amsterdam (VUA) sagten 33 Prozent der Befragten, die Regierung müsse wegen der Behördenwillkür zurücktreten: "Der Skandal hat die Wähler überhaupt nicht beeinflusst, wenn es darum geht, Rutte zu wählen", sagt Mariken van der Velden, Professorin für politische Kommunikation an der VUA. Die Anhänger seiner Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), sagt sie, seien im Allgemeinen nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Rutte, der die Niederlande seit 2010 regiert, hat diverse Skandale und harsche Kritik unbeschadet überstanden. Das hat ihm den Spitznamen "Teflon-Mark" eingebracht. Der Kindergeldskandal sei ein typisches Beispiel dafür, sagt Van der Velden.
COVID-19 als Rückenwind
Über Parteigrenzen hinweg loben die Niederländer Ruttes Führungsrolle in der Corona-Krise. "Die Menschen sind ihm überaus zugetan, selbst die, die ihn gar nicht wählen", sagt Van der Velden, deren Forschungsschwerpunkt die öffentliche Meinung in den Niederlanden ist.
Eine kürzlich erschienene Studie kam zu dem Schluss, dass 77 Prozent der Wähler Ruttes Corona-Politik unterstützen - trotz des schleppenden Starts der Impfkampagne, trotz der späten Einführung der Maskenpflicht und anderer, unbeliebter Maßnahmen, die landesweit Proteste hervorriefen.
Tjeerd aus Bussum, einem Vorort von Amsterdam, weiß noch nicht, wen er wählt, sagt aber: "Kein Regierungschef macht alles richtig. Aber Rutte war bisher beständig und professionell. Und er tut das nicht für seine eigene Agenda. Er vertritt die Niederlande sehr gut."
Die positive Wahrnehmung von Ruttes Corona-Politik dürfte ihm einen deutlichen Vorteil im Wahlkampf bringen. Denn laut einer Umfrage der VUA ist COVID-19 für die Wähler das wichtigste Thema.
Die Stunde der Exekutive
Die Corona-Krise hat Themen, die den Wahlkampf in "normalen" Zeiten dominieren würden, in den Hintergrund gedrängt, darunter Einwanderung, Wirtschaft und Klimaschutz. Rem Korteweg, ein Forscher am Clingendael Institut in Den Haag, sagt, Rutte komme zugute, dass sich Menschen in der Krise oft hinter ihre Regierung stellen: "Das Phänomen, das Krisen zur 'Stunde der Exekutive' werden, hilft ihm, und ich habe den Eindruck, dass das eine ganz bewusste Wahlkampfstrategie ist."
Ohne Wahlkampfveranstaltungen und Handzettel sind die Parteien auf Werbung in den traditionellen und digitalen Medien und auf ihre Social-Media-Kanäle angewiesen. Mit seinen zweiwöchentlichen TV-Ansprachen mit Gesundheitsminister Hugo de Jonge von der konservativen CDA an seiner Seite, verfügt Rutte über einen weiteren Kanal. "Die COVID-19-Ansprache ist in der aktuellen Situation praktisch kostenlose Wahlkampfzeit", sagt Korteweg. "Denn er präsentiert sich dort als Staatsmann und das kommt in breiten Teilen der Bevölkerung an."
Schwarzer Peter beim Koalitionspartner
Andere Parteien haben es schwer, sich im Schatten der Pandemie - und Ruttes umjubelter Führung - zu profilieren. Die Menge der Bewerber macht es den einzelnen nicht leichter: Mindestens 14 Parteien dürften den Sprung ins Parlament schaffen - aus einem rekordbrechenden Feld von 89 zur Wahl registrierten Parteien.
"Das einzigartige an Rutte ist, dass COVID-19 ihm nicht schadet - es schadet seinem Gesundheitsminister, aber der gehört einer anderen Partei an", erklärt Korteweg. Rutte scheint ein Talent zu haben, sich selbst gegen Kritik abzuschirmen, während Kabinettsmitglieder den schwarzen Peter haben.
Nach jüngsten Umfragen dürfte die Regierungsbildung ein weiteres Mal Ruttes Partei zufallen. Demnach würde seine VVD 40 Parlamentssitze erreichen, während die zweitstärkste Fraktion, die der CDA, mit 19 Sitzen rechnen kann.
Nicht alle sind für Rutte
Für den Kindergeldskandal hat sich die Regierung entschuldigt und 500 Millionen Euro zurückgestellt, um die Opfer zu entschädigen. Aber für Kristie Rongen kann Pragmatismus die Ungerechtigkeit nicht wiedergutmachen.
"Ich hatte kein Geld, sie haben mir alles genommen", erzählt sie. Und das betraf nicht nur sie selbst: Sie hatte Schwierigkeiten, die Wohnung zu halten und ihre Kinder zu ernähren. Oft gab es nur ein Scheibe Brot zu essen. Eine ihrer Töchter, im Teenager-Alter, litt während dieser Zeit unter Depressionen, wurde suizidal und musste in psychologische Therapie.
"Diese Zeit kann mir niemand wiedergeben, und deshalb schlage ich jetzt zurück", sagt Rongen, die jetzt im Justizministerium arbeitet. "Ich will, dass Rutte gehen muss. Er hätte das alles längst beenden können, aber letztlich hat er das nie getan."
Ein langer Kampf
Rongen hat eine finanzielle Entschädigung erhalten. Wie viel genau, will sie nicht sagen. Es sei etwa so viel, wie sie von ihr verlangt hatten. Die Ironie, sagt sie, sei, dass sie einen großen Teil der Entschädigung versteuern müsse.
Dass Ruttes Kabinett im Januar zurückgetreten ist, interpretieren einige als - zumindest symbolische - Übernahme von Verantwortung. Rutte selbst hat immer betont, dass er erst im Sommer 2019 verstanden hätte, wie dramatisch das Problem war. Für Rongen hieße Verantwortung übernehmen, dass Rutte von seinem Posten zurücktritt, auch von dem als Übergangspremier. Dafür will sie kämpfen: "Ich bin eine Löwin", sagt sie und zeigt auf einen Kunstdruck in ihrem Wohnzimmer: "Ich bin eine Kämpferin, und ich werde kämpfen, um meine Kinder zu beschützen."