Rutte stürzt über Kindergeld-Affäre
15. Januar 2021"Der Rechtsstaat muss die Bürger beschützen, das ist furchtbar schief gegangen", so begründet der niederländische Premier Mark Rutte am Freitag seinen Rücktritt. Mit ihm übernimmt das gesamte Kabinett die politische Verantwortung für einen Skandal um die Auszahlung von Kindergeldzuschlägen, der noch in die Jahre vor Ruttes erster Amtszeit 2010 zurückreicht. Wegen der Corona-Krise wird die Regierungskoalition bis zu den Neuwahlen im März geschäftsführend im Amt bleiben. Mark Rutte galt bislang als erfolgreicher Regierungschef und führte in den Umfragen, seine Wiederwahl schien gesichert. Jetzt allerdings könnte die Zukunft des politischen Überlebenskünstlers infrage stehen.
"Beispiellose Ungerechtigkeiten"
Für Roger Derikx aus Hoofddorp ist der Rücktritt der Regierung eine notwendige Konsequenz aus dem Unrecht, das ihm und rund 10.000 weiteren Eltern widerfahren ist. "Viele Leute ließen sich scheiden, viele mussten ihre Häuser verkaufen, verloren ihre Arbeit oder ihre Reputation im Job", erzählt Derikx gegenüber der DW. "Der unglaubliche Druck war einer der Gründe, warum auch ich geschieden wurde", erzählt der gelernte Koch von seiner Erfahrung.
Das Finanzamt hatte ihn wie viele andere Familien wegen angeblich zu viel gezahlter Kinderbetreuungs-Zuschläge gnadenlos verfolgt. 2010 stand der Gerichtsvollzieher vor Roger Derikx Tür, um 33.000 Euro einzutreiben: "Sie sind in mein Haus gekommen, haben meinen Kühlschrank weggenommen, mein Auto und 40 Prozent von meinem Gehalt". Er habe nie verstanden, was der Grund für die Entscheidungen des Finanzamts war: Irgendein nicht unterschriebenes Formular oder gar der surinamische Nachname seiner Ex-Frau?
"Das Finanzamt ist sehr mächtig", erklärt Derikx die Situation, Einsprüche hätten keinen Erfolg und wenn man nicht vor Gericht ziehe, sei man verloren. Aber auch dort sei der Versuch der Gegenwehr vielfach gescheitert. Die Kinder-betreuungszuschläge werden in den Niederlanden zunächst ungeprüft ausgezahlt und die Eltern müssen dann nachträglich beweisen, dass sie darauf einen Anspruch haben. Wer dabei einen Fehler machte, kam wohl in die Mühlen der Vollstreckungsverfahren.
Roger Derikx glaubt, dass das Finanzamt sogar seinen Versuch einer Entschuldung blockiert habe. Mit seinem Leben sei es damals nur noch bergab gegangen, für die ganze Familie war es das "totale Chaos". Aus Verzweiflung wurde er zum Aktivisten und durfte im Dezember schließlich im Parlament in Den Haag für die Geschädigten sprechen. Da lag der Untersuchungsbericht, den Premier Rutte jetzt "brutal, aber fair" nennt, bereits auf dem Tisch. Aber einmal mehr blieben Derikx und seine Mitstreiter mit leeren Händen zurück.
Mehr Bürokratie statt Entschädigung
Rechtsanwalt Orlando Kadir kritisiert insbesondere, dass es mit den von der Regierung zugesagten Entschädigungen nicht vorangeht. Er vertritt 600 der geschädigten Familien. Schon im September hätten sie jeweils eine Abschlagszahlung von 30.000 Euro erhalten sollen, wie die zuständige Finanzstaatssekretärin Alexandra von Huffelen im Herbst versprochen hatte. Aber das Geld kam nicht, weil angeblich zunächst noch einmal die individuellen Ansprüche der Betroffenen geprüft werden müssten.
Für Kadir mahlen die bürokratischen Mühlen weiterhin unerträglich langsam: "Zu Weihnachten haben einige Familien 750 Euro bekommen". Das müsse vielen wie Hohn erscheinen, denn 80 Prozent seiner Klienten hätten einen Schaden von 100.000 Euro und mehr erlitten. Sie hätten Schulden aufnehmen und Zinsen zahlen müssen, ihre Arbeit verloren und wurden in eine Abwärtsspirale gerissen, denen die Mehrzahl nicht gewachsen war. Denn die strittigen Kinderbetreuungszuschläge werden vor allem an berufstätige Eltern mit niedrigen Einkommen gezahlt.
Der Anwalt musste auch feststellen, das das Drama noch nicht vorbei ist: Einige seiner Klienten bekämen noch immer Briefe vom Finanzamt, in denen sie aufgefordert werden, ihre Ansprüche nachzuweisen. Und das, obwohl ein Untersuchungsbericht im Dezember zu einem unmissverständlichen Urteil gekommen war. Darin ist von "beispiellosem Unrecht" gegenüber den Geschädigten die Rede. Die zuständigen Minister hätten alle notwendigen Informationen gehabt und dem Skandal viel früher ein Ende machen müssen. Inzwischen räumt auch die niederländische Staatsanwaltschaft ein, dass "die Maßnahmen der Finanzbehörden in vielen Fällen sehr ungerechte Folgen" gehabt hätten. Dies sei allerdings eine Problem, das politisch gelöst werden müsse. Eine strafrechtliche Verfolgung der zuständigen Beamten lehnt die Justiz ab.
Inzwischen sind einige der Fälle vor dem Obersten Gericht der Niederlande anhängig. Anwalt Vaco Groenewold, der eine weitere Gruppe von Familien vertritt, macht verschiedene Minister für eine fahrlässige Regierungsführung verantwortlich, für Diskriminierung im Amt – denn über 10.000 Familien mit doppelter Staatsangehörigkeit gehören zu den Opfern des Skandals – sowie für Verstöße gegen die internationale Kinderrechtskonvention. Auch Finanzstaatssekretärin van Huffelen räumt heute ein, dass das Leben vieler Kinder durch den Skandal nachhaltigen Schaden genommen habe.
Viele Eltern konnten jahrelang keine Schulausflüge oder andere Aktivitäten bezahlen, erklärt Roger Derikx, der sich zu seinem unbequemen Aktivismus bekennt: "Wenn ich nicht laut bin, passiert nichts". Aber aus einer inzwischen eingerichteten Elterngruppe bei den Finanzbehörden sei er wieder ausgetreten. Eine teure Consultingfirma habe dort eine Art Power-Point Verfahren entwickelt, mit dem die Eltern ihre individuellen Ansprüche auf Entschädigung nachweisen sollten. Aber vielen Familien stehe das Wasser bis zum Hals, sagt Derikx, sie lebten am Existenzminimum und seien mit solchen komplexen Verfahren überfordert.
Der Premier verspricht Entschädigung, jetzt wirklich
Bis zum 1. Mai sollten alle Betroffenen wenigstens die zugesicherte Abschlagssumme von 30.000 Euro erhalten haben, verspricht der scheidende Premier Markt Rutte jetzt in seiner Rücktritts-Pressekonferenz. Und weitere Zahlungen sollten so schnell wie möglich geleistet werden. Die Abwicklung der Entschädigungen sei jetzt "eine enorme Operation", viele Familien hätten Schulden gemacht und die Gemeinden müssten mithelfen, die Probleme aufzuarbeiten. Man müsse befürchten, erklärte Rutte, dass die 30.000 Euro in der Schuldentilgung verschwinden werden und die Leute danach trotzdem immer noch nicht genug zum Leben hätten.
Im letzten Moment, nach Jahren des Wegsehens, scheint der Regierungschef das Problem in seiner Tragweite verstanden zu haben. Sein Kabinett trete wegen des verspielten Vertrauens in den Rechtsstaat zurück, räumt Mark Rutte ein. Die Frage aber, warum er nicht schon viel früher in den seit Jahren schwelenden Skandal eingegriffen hat, beantwortet er nicht. Es muss mit der besonderen Trägheit der für die Niederlande typischen Koalitionsregierungen zu tun haben, deren Langlebigkeit auch davon abhängt, dass Probleme aufgeschoben und übersehen werden. Rutte galt als Meister in dieser Kunst der politischen Verdrängung, bis die Affäre so groß wurde, dass sie dem erfolgreichen Premierminister schließlich politisch das Genick gebrochen hat.
In einer vorangegangenen Version standen im Teaser die Worte "jahrzehntelanger Skandal" - das war ein Fehler. Es handelt sich um einen "jahrelangen Skandal". Im Text war dies auch korrekt dargestellt. Wir bitten diesen Fehler im Teaser zu entschuldigen. Wir haben ihn korrigiert.