36. Deutschland auf die Finger Klopfen
21. Dezember 2021Jingle: DW. "Echt behindert!"
Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Seit es diesen Podcast gibt, reden wir hier regelmäßig über die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Darüber, was sie für behinderte Menschen bedeutet, wie sie das alltägliche Leben beeinflusst und wie die UN-BRK das Selbstverständnis von Menschen mit Behinderung verändert.
Wir Behinderten haben Recht auf Selbstbestimmung, auf Barrierefreiheit, auf inklusive Bildung und einiges mehr. Das hat auch Deutschland unterschrieben. Doch dann kommen immer die Fragen: "Können wir denn diese Rechte überhaupt auch durchsetzen?", "Gelten sie denn auch im Praktischen?"
Heute zu Gast: Britta Schlegel und Leander Palleit vonder Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention. Mal sehen, ob Sie uns dabei weiterhelfen können, diese Fragen zu klären. Schönen guten Tag zusammen.
Britta Schlegel: Schönen Tag.
Leander Palleit: Schönen guten Tag, Herr Klaus.
Matthias Klaus: Zunächst mal die Frage: "Was macht denn diese Monitoring-Stelle und warum gibt es die überhaupt?"
Britta Schlegel: Die Monitoring-Stelle überwacht die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Die Konvention ist ja 2009 in Deutschland in Kraft getreten und seitdem gibt es tatsächlich die Monitoring-Stelle schon am Deutschen Institut für Menschenrechte.
Sie wurde von staatlicher Seite eingerichtet, um diesen Auftrag zu erfüllen, der auch in der Konvention festgeschrieben ist. Also in der Behindertenrechtskonvention findet sich in Artikel 33 tatsächlich eine staatliche Verpflichtung, unabhängige Monitoring-Stellen im eigenen Land einzurichten, die dann von unabhängiger Seite aus wissenschaftlich beratend auch die Umsetzung im eigenen Land begleiten, konstruktiv begleiten, aber auch mal den Finger in die Wunde legen, wenn es an bestimmten Stellen nicht besonders gut vorangeht.
Matthias Klaus: Herr Palleit und Frau Schlegen was genau machen Sie in dieser Monitoring-Stelle? Es ist ja nicht eine Stelle, die nur aus Ihnen beiden besteht...
Leander Palleit: Ich spreche mal in der Wir-Form: Wir machen in der Monitoring-Stelle ganz verschiedene Dinge logischerweise, die sich hauptsächlich auf der strukturellen Ebene abspielen: Wir schauen, inwiefern wird das, was Deutschland versprochen hat, hier auch tatsächlich umgesetzt in den Strukturen, die Menschen mit Behinderung im Alltag so vorfinden.
Da versuchen wir zum einen eine Brücke zu bilden zwischen dem Raum der Vereinten Nationen und dem, was in Deutschland stattfindet, indem wir darüber informieren. Zum Beispiel: Was passiert da gerade auf UN-Ebene? Was gibt es da möglicherweise für neue Dokumente, an denen wir uns orientieren können, wenn es um die Frage geht: Wie setzt man diese Konvention denn um? Da gibt es ja immer mal wieder was Neues. Das versuchen wir hier zu vermitteln.
Wir versuchen Bewusstseinsbildung zu betreiben, hier bei verschiedenen Akteuren, also auch in der Praxis, bei Trägern, bei Richtern, Richterinnen zum Beispiel. Wir halten Vorträge und wir gucken uns natürlich Gesetze genauer an, wenn Entwürfe da in der Welt sind, ob die sozusagen im Einklang mit der UN-BRK stehen oder eben nicht. Und wir verfolgen natürlich auch die Rechtsprechung: "Was ist los im Lande? Wo geht es voran und wo nicht?"
Matthias Klaus: Was sind denn jetzt die Themen, die Sie so bearbeiten? Es ist ja wahrscheinlich nicht nur: "Hier ist die Konvention und bitte haltet euch dran," sondern sie werden ja auch konkret irgendwo eingreifen. Welche Themen sind denn gerade so am Start bei Ihnen?
Britta Schlegel: Tatsächlich ist die Konvention ja sehr vielfältig, das werden Sie wissen. In der Behindertenrechtskonvention sind ganz viele Lebensbereiche geregelt und mit Rechten hinterlegt. Das ist zum Beispiel der Bereich inklusive Bildung, der Bereich Wohnen, der Gesundheitsschutz.
Wir haben jetzt ganz aktuell zur Bundestagswahl im Oktober diesen Jahres ein Papier veröffentlicht "Empfehlungen zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in der 20. Wahlperiode auf Bundesebene". Und wir haben da tatsächlich elf Eckpunkte entwickelt mit verschiedenen Forderungen in ganz vielen verschiedenen Themenbereichen, wie wir die UN-BRK besser umgesetzt sehen wollen.
Als Beispiel betrifft das unter anderem den Bereich inklusive Bildung. In dem Bereich beobachten wir leider mit großer Besorgnis seit Jahren, dass die Inklusionsrhetorik, die in den Ländern herrscht... [nur eine solche ist]. Also in den Bundesländern wird gesagt: "Ja, wir setzen uns für die inklusive Bildung ein". Aber das ist eigentlich eine Rhetorik, die trotzdem sehr stark auf eine Doppelstruktur setzt.
Wir haben dennoch in den Bundesländern noch Förderschulen, in der Regel, die auch weiter finanziert werden. Es wird auf das Elternwahlrecht gesetzt. Das heißt, es wird sehr stark argumentiert: Die Eltern dürften sich zum Wohle des Kindes die Schulform aussuchen und deswegen müsste man diese beiden Strukturen erhalten.
Das sind aber Entwicklungen, die wir mit Besorgnis beobachten, weil es dem Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention widerspricht, der darauf abstellt, dass jedes Kind mit Behinderung in Deutschland in einem inklusiven Schulsystem beschult wird.
Und das heißt ganz konkret, und das hat der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung in Genf, der ja von Seite der Vereinten Nationen auch nochmal die Umsetzung der Konvention international überwacht, gesagt: Dass diese Strukturen abgebaut werden müssen, schrittweise.
Das heißt, das Förderschulsystem muss schrittweise abgebaut werden und die Ressourcen, die da reingesteckt werden, finanziell und personell, müssen umgeschichtet werden in das Regelschulsystem, um da eine gute Schule aufzubauen. Und das fordern wir eben von den Bundesländern. Das ist Ländersache. Bildung ist Ländersache. Deswegen haben wir da die Bundesländer als Austauschpartner, die wir mit unseren Forderungen adressieren.
Matthias Klaus: Lassen sich denn Bundesländer von so einer Bundesinstitution überhaupt etwas sagen? Es ist ja doch normalerweise immer schwierig, wenn zum Beispiel der Digitalpakt kommt oder sonst irgendwas bundesweites, dann haben die Länder da immer ihre eigenen Vorstellungen. Wie kommen Sie denn damit zurecht?
Britta Schlegel: Wir haben die besten Einflussmöglichkeiten in den Bundesländern, die uns tatsächlich schon beauftragt haben mit einem unabhängigen Monitoring. Wir haben Länder-Projekte bei uns angesiedelt zum Saarland, zu NRW und zu Berlin. In diesen drei Bundesländern sind wir tatsächlich schon in der Beratung der Landesregierung tätig und werden dafür auch finanziert. Da haben wir natürlich immer einen besseren Zugang zur Landesverwaltung und können die Themen besser platzieren und werden natürlich dann auch gehört, weil wir auch als Projekte da finanziert werden für diese Beratungsleistung.
Dennoch sehe ich es schon so, dass wir als Bundesstelle auch einen gewissen Einfluss haben, Bundesländer-übergreifend, weil wir doch mittlerweile im Konzert der Stimmen was die Behindertenpolitik angeht, auch gehört werden. Unsere Positionen gehen ja auch oft Hand in Hand genau mit denen der Zivilgesellschaft, die wir in unser Monitoring ja einbeziehen. Da schauen wir genau: "Was sind denn die selbstvertreterverbände? Was wollen die in den Themenbereichen erreichen?" Wir konsultieren die ja auch aktiv und ziehen da auch oft an einem gemeinsamen Strang.
Leander Palleit: Und es ist ja auch nicht so, Herr Klaus, dass sich die Länder aussuchen könnten, ob sie sich für die Umsetzung der Konvention zuständig fühlen oder nicht. Wir hatten das ja am Anfang, als die Konvention ganz neu war. Da [sagten] erst einmal Bundesländer: "Das ist eine Angelegenheit des Bundes: Davon sind wir nicht direkt betroffen."
Aber ich meine, da ist inzwischen eine Lernkurve durchaus schon zu sehen, denn es steht ja in der Konvention ausdrücklich drin, dass sie für alle Teile eines Bundesstaats gilt, also auch für die Länder ganz ausdrücklich. Das steht so eins zu eins in der Behindertenrechtskonvention drin und es hat sich rumgesprochen.
Matthias Klaus: Wenn ich jetzt mal so schaue: Sie sind eine Monitoring-Stelle auf Deutsch. Sie beobachten einfach. Mit welchen Methoden kriegen Sie denn raus, wie die Sachlage eigentlich ist in Deutschland? Einfach nur Meinungen haben, wird ja nicht reichen.
Britta Schlegel: Nein, das reicht sicherlich nicht. Im Grunde verbinden wir in unserer Abteilung zwei Kompetenzen:
- Einmal starke juristische Kompetenzen. Wir müssen natürlich beobachten: "Wie sind die deutschen Gesetze gestrickt? Sind die konform zu UN-Behindertenrechtskonvention oder sind sie es nicht?"
Das heißt, wir positionieren uns sehr häufig auch in Gesetzgebungsverfahren und legen den Finger in die Wunde und sagen, dass bestimmte rechtliche Regelungen so nicht der Konvention entsprechen. Wir versuchen dann auf Änderung hinzuwirken. Oder auch in dem Fall, dass bestimmte Gesetze noch Regelungen zum Schutz von Menschen mit Behinderung bedürfen. Dann wirken wir darauf hin, dass diese Regelungen mit aufgenommen werden.
Die juristische Kompetenz ist natürlich auch sehr wichtig, um das Völkerrecht, also die UN-Behindertenrechtskonvention als Teil des Völkerrechts richtig zu interpretieren und auszulegen und so dann in den deutschen Sprachraum zu vermitteln.
- Die andere Seite ist eben auch eine sozialwissenschaftliche Kompetenz, die wir mitbringen, und zwar dahingehend, dass wir natürlich schauen müssen anhand von Daten und Fakten: "Wie steht es um die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderung in verschiedenen Lebensbereichen?"
Im Bereich der inklusiven Bildung, den ich eben angesprochen habe, bezieht sich das zum Beispiel auf die Inklusions- und Exklusionsquoten. Das heißt, wir haben Statistiken aus den Ländern, wo man ganz genau ablesen kann: "Wie viele Kinder mit Beeinträchtigungen werden da derzeit exklusiv beschult im Schulsystem?" Und wir stellen natürlich die Frage, ob diese Quote langsam sinkt, also wie sie sich weiterentwickelt.
Da sehen wir nämlich eine Stagnation. Tatsächlich, diese Quote ist seit zehn Jahren relativ unverändert und sinkt nicht. Das heißt, es sind immer noch genauso viele Kinder mit Beeinträchtigung in der Förderschule, wie sie es vor zehn Jahren ungefähr waren. Nur als Beispiel, um zu zeigen, dass natürlich empirische Daten sehr, sehr wichtig sind in der Beobachtung der Umsetzung der Konvention in Deutschland.
Matthias Klaus: Ihr gesetzlicher Auftrag ist ja zu berichten an die Vereinten Nationen selbst, soweit ich das verstanden habe. Es gibt ja diesen Staatenbericht. Wie funktioniert er?
Leander Palleit: Das ist so ein eingebauter Rückmelden-Mechanismus, den es bei diesen Menschenrechtsverträgen immer gibt. Eigentlich in allen diesen Menschenrechtskonventionen und eben auch in der Behindertenrechtskonvention.
Jeder Staat, der die unterschrieben hat, muss alle paar Jahre berichten: "Was habe ich denn getan als Staat?" Das ist der sogenannte Staatenbericht, den auch die deutsche Bundesregierung alle vier Jahre regelmäßig einreichen muss. Und dann wird er immer geprüft von dem dafür zuständigen Ausschuss bei den Vereinten Nationen, dem UN-Fachausschuss.
Und dann gibt es eine Bewertung von dem Fachausschuss und er sagt: "Ja, das und das gefällt uns an der und der Stelle. [Hier und da] seid ihr noch nicht so weit, wie ihr sein könntet. Da empfehlen wir euch nachzubessern." So, und damit dieser UN-Fachausschuss seine Bewertung auch tatsächlich treffen kann, legt der Ausschuss auch Wert darauf, nicht nur vom Staat selbst Berichte zu kriegen, weil es ist ja logisch, dass sich der Staat selbst meistens ein ziemlich gutes Zeugnis ausstellt.
Deswegen gibt es immer die Möglichkeit (das Verfahren ist öffentlich und transparent) diesen Staatenbericht von der Regierung zu kommentieren. Also quasi eine zweite und dritte Meinung dazu abzugeben.
Und ganz häufig machen das die politischen Behindertenverbände, zum Beispiel einen sogenannten Parallelbericht nennt man das, einzureichen. Und das machen auch typischerweise Organisationen wie wir, sprich: nationale Menschenrechtsinstitutionen oder solche Monitoring-Stellen, die dann auch noch mal ihren Befund abgeben beim Fachausschuss.
Ziel der Übung ist, dass der Ausschuss möglichst eine fundierte Bewertung abgeben kann, dass er einfach von unterschiedlicher Seite die jeweilige Sicht der Dinge geschildert bekommt und sich ein möglichst authentisches Bild machen kann und nicht nur sozusagen "schöngefärbt" einen Staatenbericht hat und sonst nichts.
Matthias Klaus: Vielleicht wäre das noch mal eine Gelegenheit, so ein bisschen zu klären, welche Position sie haben. Sie sind ja nicht der Staat, sondern eine beauftragte Stelle. Gleichzeitig dürfen Sie als beauftragte Stelle ja auch durchaus den Staat drauf hinweisen, was er tut und was er nicht tut. Wie ist dieses Verhältnis? In welcher Form stehen Sie jetzt z.B. zur Bundesregierung?
Leander Palleit: Worüber wir arbeiten, welchen Themen wir uns widmen, zu welchen Schlüssen wir kommen und so weiter, da redet uns niemand rein. Das entscheiden wir ganz allein selbst. Wir sind auch für die Schwerpunktsetzung unserer eigenen Arbeit verantwortlich. Da können wir uns auch hinter niemandem verstecken.
Matthias Klaus: Also Ihr Job ist nicht, Deutschland gut dastehen zu lassen.
Leander Palleit: Nein, überhaupt gar nicht. Wir sind so gesehen in einer absolut luxuriösen Situation, dass wir von Deutschland dafür bezahlt werden, Deutschland auf die Finger zu klopfen.
Matthias Klaus: Sie sind sozusagen unabhängig. Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist ihre Heimat. Das ist ja eine ähnliche Konstruktion, wenn ich das richtig verstehe. Vielleicht können Sie das noch mal eben erläutern.
Britta Schlegel: Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die Nationale Menschenrechtsorganisation Deutschlands. Die Vereinten Nationen sehen vor, dass jedes Land der Welt sich so eine nationale Menschenrechtsorganisation geben soll, die ebenfalls staatlich finanziert ist, aber auch unabhängig die Menschenrechtslage im eigenen Land überwachen soll. Und es gibt auch bestimmte Prinzipien von UN-Seite, die heißen "Pariser Prinzipien" weil sie in Paris verabschiedet wurden. Die regeln bestimmte Grundsätze dieser nationalen Menschenrechtsorganisationen, und zwar eben genau diese Fragen der Unabhängigkeit, die so eine Organisation erfüllen muss.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist sozusagen als "A" akkreditiert. Das ist der beste Akkreditierungsstatus bei den Vereinten Nationen, der "A Status". Das heißt, wir werden von der internationalen Ebene als unabhängige Organisation anerkannt. Das ist unsere Heimat auch als Monitoring-Stelle und ich glaube, da sind wir sehr, sehr gut verortet und beheimatet. Das war eine gute Idee tatsächlich im Jahre 2009 mit Ratifikation der Behindertenrechtskonvention in Deutschland, dass die Monitoring-Stelle am Institut angesiedelt wurde.
Jingle: Sie hören "Echt behindert!" den Podcast für Barrierefreiheit und Inklusion der Deutschen Welle. Wir sind auf allen gängigen Podcast Plattformen. E-Mail Feedback und Kommentare an [email protected]. Mehr Infos und Links gibt es unter dw.com/echtbehindert. Und bewerten Sie uns, wo immer Sie uns hören.
Matthias Klaus: Wie funktioniert denn die Verbindung zu den in Deutschland aktiven Verbänden, Aktivisten, Gruppen und wirtschaftlich Interessierten? Wie sprechen Sie mit denen? Wie erfahren Sie von dort, wie es in Deutschland um die Behinderten steht?
Britta Schlegel: Für uns ist das ein ganz, ganz wichtiger Teil unserer Arbeit, dass wir natürlich in der Monitoring-Funktion ganz stark darauf schauen: "Was sind die Erfahrungen der Selbstvertretungsvereine und Verbände? Was sind die Positionen in der politischen Landschaft, in der behindertenpolitischen Landschaft? Und was sind tatsächlich die Probleme und Belange, die die Menschen mit Behinderung selber sehen und haben und so formulieren?"
Wir haben dann verschiedene Wege, uns diese Informationen einzuholen. Der aktive Weg, uns die Informationen einzuholen, sind unsere Verbändekonsultationen. Das sind dreimal im Jahr stattfindende 5-stündige Termine, zu denen wir mittlerweile immer bis zu 70 Organisationen einladen. Das sind wie gesagt, Selbstvertretungsorganisationen aber auch Organisationen wie der VdK, der SOVD also große Sozialverbände, die natürlich behindertenpolitische Referentinnen und Referenten haben.
Wir tauschen und dort über aktuelle politische Vorgänge aus und konsultieren und auch frei zu Themen, wo wir etwa sagen: "Wir entwickeln gerade hier ein Thema und eine Position. Wir möchten vorher Rückkoppelung mit Euch, mit Ihnen, ob wir da in die richtige Richtung denken." Dafür nutzen wir diese Termine, die dreimal im Jahr stattfinden, regelmäßig.
Daneben haben wir natürlich auch einfach persönliche Kontakte, stehende Kontakte, die wir immer wieder aktiv nutzen, um in Kontakt zu bleiben über das Jahr hinweg und haben auch einen kurzen Draht zu sehr vielen Personen in der Selbstvertretung, aber auch in Sozialverbänden.
Matthias Klaus: Gibt es irgendeine Möglichkeit der Monitoring-Stelle, ich sage mal, was zu stecken, wenn mich jetzt persönlich etwas ärgert, was ich hier in Bonn erlebe? Macht es dann irgendeinen Sinn bei Ihnen mal Bescheid zu sagen? Oder geht es dann seinen institutionellen Gang über meinen örtlichen Verein in den Verband, in die Verbände, Konsultation? Oder haben Sie auch so was wie einen Kummerkasten?
Leander Palleit: Gute Frage, die wird uns häufiger gestellt. Nee, haben wir leider nicht. Der bessere Weg ist tatsächlich, wie Sie sagten, der offizielle Weg, weil wir und auch das Institut insgesamt kein Beratungs- oder Beschwerde-Mandat haben. Das ist uns nicht erlaubt. Es ist nicht Teil unseres Auftrags. Wir dürfen also keine Rechtsberatung im Einzelnen geben. Wir dürfen auch nicht intervenieren. Also so eine Kummernummer können wir nicht sein.
Es wenden sich natürlich trotzdem immer wieder Leute an uns, die sagen: "Ja, ich habe dies und das Problem, und das kann ja wohl nicht sein" und so. Also wenn wir von solchen Sachen erfahren, versuchen wir entweder an die richtige Stelle weiter zu verweisen. Das kann die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sein. Die haben so eine Beschwerde-Funktion. Es gibt eine Schlichtungsstelle, wenn es um Fragen des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes geht.
Manchmal bleibt uns aber auch nur zu sagen: "Tut uns leid, da müssen Sie sich wirklich anwaltlichen Rat holen." Es ist leider oft so, dass wir sagen müssen: "Wir können ihnen nicht helfen." Und das ist aber nicht so, dass das dann jetzt alles total abperlen würde und wir das total ignorieren, sondern was wir natürlich auf diese Weise trotzdem anschauen, ist: Wo drückt im Einzelnen möglicherweise der Schuh? Und das fließt natürlich alles in unseren Wissensbestand mit ein.
Wir verarbeiten das dann schon, was uns mitgeteilt wird. Aber wir können nicht im Einzelfall helfen, sondern das hilft uns nur bei der strukturellen Arbeit auf dieser Ebene dann besser zu werden und auch Rückkopplung zu haben: "Okay, das sind die Probleme, die wir jetzt da beispielsweise im Bildungsbereich angehen [sollten]". Oder wo wir gerade darauf hinarbeiten: "Sind das auch wirklich die Probleme oder denken wir uns das nur aus?"
Matthias Klaus: Wo Sie gerade Bildungsbereich sagen, vielleicht noch mal ein paar von den größten Baustellen, die Deutschland beim Umsetzen der UN-BRK derzeit noch hat, mal so kurz aufgezählt! Was kommt Ihnen da zuerst in den Kopf?
Britta Schlegel: Ich könnte vielleicht aktuell mal starten mit der Corona Pandemie.
Matthias Klaus: Gerne.
Britta Schlegel: Das ist ja eine Situation, die uns alle beschäftigt, alle Menschen mit oder ohne Beeinträchtigungen. Wir müssen aber leider feststellen, dass Menschen mit Behinderung ganz besonders von dieser Pandemie betroffen sind.
Und zwar gibt es einige Bereiche, wo ihre Rechte verletzt werden und wo sie besonders gefährdet sind, benachteiligt zu werden. Zunächst sind es jetzt gerade aktuell die Booster-Impfungen. Bei der letzten Impfaktion war es so, dass auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe geimpft wurde. Da kamen Impfteams. Das ist jetzt nicht mehr an allen Orten der Fall.
Das heißt, Menschen mit Beeinträchtigungen, die auf eine Booster Impfung angewiesen sind, weil sie auch häufig zur Risikogruppe gehören, stehen vor der gleichen Situation, vor der alle Menschen stehen: Sie müssen zum örtlichen Hausarzt oder zur Hausärztin und versuchen einen Termin zu bekommen.
Diese Terminvergabe ist aber nicht mehr nach einer bestimmten Impfreihenfolge geordnet, dass Risikogruppen zuerst geimpft werden, wie es eigentlich aus unserer Sicht weiterhin sein sollte für Menschen mit Behinderung. Das heißt, es gibt jetzt Probleme, an Impftermine zu kommen und wir können nicht sicher gehen, dass jetzt bei den Booster-Impfungen, Menschen mit Behinderung, die oft zur Risikogruppe gehören, tatsächlich frühzeitig geimpft werden.
Ein weiteres Problem, was wir gesehen haben und immer noch sehen, ist die Kontaktbeschränkung in Einrichtungen. Viele Einrichtungen der Behindertenhilfe hatten die Tore zugemacht, als die Infektionszahlen sehr hoch waren. Kontaktbeschränkungen bewirkt haben, dass die Menschen ihre Familien und ihre Freunde gar nicht mehr treffen konnten, nicht berühren durften - zum Teil.
Kinder mit Behinderung durften ihre Eltern tatsächlich nicht berühren in der Zeit, weil die Einrichtungsleitung die Tore geschlossen hat. Das hat ganz lange gedauert, bis Konzepte entwickelt wurden, wie man unter dem geltenden Infektionsschutzgesetz trotzdem Kontakt herstellen konnte in Einrichtungen. Das betrifft übrigens auch Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen der Altenpflege. Aber wir reden hier über die Eingliederungshilfe. Das sind zum Teil schockierende Zustände gewesen.
Wenn ich noch einen letzten Aspekt unter Corona ansprechen kann, ist es die Frage der Triage, die uns auch sehr umtreibt. Es ist ja so, dass die intensivmedizinischen Ressourcen in Deutschland begrenzt sind. Wir hören immer wieder Pressenachrichten, dass bestimmte Krankenhäuser schon überlastet sind, die Intensivstationen keine neuen Personen mehr aufnehmen können.
Ärztinnen und Ärzte werden tatsächlich vor die Situation gestellt, zu entscheiden, welche Personen beatmet werden und welche Personen nicht beatmet werden. Menschen mit Behinderung fürchten aufgrund der dort angewendeten Kriterien für diese Triage-Situation schlechter gestellt zu werden als andere Menschen. Diese Kriterien stellen nämlich auf eine Gebrechlichkeitsskala ab und auf Kriterien der Lebenserwartung.
Das führt dazu, dass sie, wenn sie vor einer Situation der Triage stehen, befürchten müssen, dass sie nicht versorgt werden und andere Menschen versorgt werden. Das sehen wir als Deutsches Institut für Menschenrechte, als keinen diskriminierungsfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung. Wir sagen: "Es muss unbedingt eine gesetzliche Regelung her, die der Bundestag verabschieden muss und die die Krankenhäuser und die Ärzteschaft genau daran bindet, diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung auch in der Intensivmedizin zu gewährleisten."
Matthias Klaus: Gehen Sie an der Stelle auch soweit und machen Vorschläge? Ich meine, was könnte das sein? Auslosen zum Beispiel?
Britta Schlegel: Das ist interessant, Herr Klaus, dass Sie auf das Auslosen kommen. Das Auslosen wurde tatsächlich diskutiert in Fachkreisen als eine diskriminierungsfreie Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, wenn man wirklich die Ressourcen nicht für alle Personen hat.
Es ist eine unheimlich heikle und schwere Frage, genau in diesem Punkt Vorschläge zu machen. Wir machen tatsächlich in anderen Themenbereichen wie dem Bereich Bildung, Wohnen, Gesundheit, Arbeit sehr viele Vorschläge, auch zur besseren Umsetzung der Konvention. Aber ich muss sagen, dass es an dieser Stelle: Wie soll hier eine diskriminierungsfreie Versorgung in Triage-Situationen geschaffen werden? Da braucht es ganz viele Expertinnen und Experten an einem Tisch. Da braucht es die Intensivmedizin, da braucht es Menschen mit Behinderung und ihre Vertretung, Organisationen, die mitsprechen in so einem Prozess der Entscheidungsfindung. Ethiker braucht es dazu natürlich auch gerne, wie das Institut für Menschenrechte, die den Verfassungs- und menschenrechtlichen Rahmen klar formulieren und vorgeben. Aber ich glaube, da sind wir nicht gut berufen, mit einem Vorschlag ins Feld zu treten.
Matthias Klaus: Das Letzte, was ich von Ihnen gesehen habe letzte Woche, war eine Veranstaltung zum Thema Gewaltschutz. Vielleicht können Sie noch mal kurz erklären, worum es da ging und was Sie da vertreten haben.
Britta Schlegel: Gerne. Letzte Woche Freitag, am 10.12. das war der Internationale Tag der Menschenrechte. An dem Tag haben Jürgen Dusel, der Behindertenbeauftragte und ich, von Seiten des Instituts für Menschenrechte der Monitoring-Stelle, gemeinsam eine Veranstaltung ausgerichtet zum Gewaltschutz von Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen.
Das Thema ist eins, was lange gar nicht auf der politischen Agenda war und auch nicht auf der Agenda der Wohlfahrtspflege. Es war lange so, dass das Thema Gewaltschutz eigentlich ein ständiges Thema war, was niemand beachtet hat. Wir haben dann ungefähr vor zehn Jahren eine ganz wichtige Studie gehabt, die vom Familienministerium beauftragt wurde und von einer Universität durchgeführt wurde, wo dann herausgekommen ist: Viele Frauen mit Behinderungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe erfahren in ihrem Leben Gewalt, verschiedene Arten von Gewalt, sexualisierte Gewalt, aber auch psychische Gewalt. Und sie sind ganz stark betroffen. Das hat sozusagen den Stein ins Rollen gebracht, dass das Thema stärker wahrgenommen wurde, dieses wichtige Thema.
Der nächste Schritt war dann die Staatenprüfung vor dem UN-Ausschuss in Genf. Wir haben ja gerade schon viel über die Staatenprüfung gesprochen. Die erste Staatenprüfung fand ja 2015 statt. Da hat der UN-Ausschuss dieses Thema hervorgehoben als ein Thema, was er mit besonderer Besorgnis betrachtet hat und wo er dem deutschen Staat ins Hausaufgabenheft geschrieben hat, sehr schnell Maßnahmen zu ergreifen, um Dinge und Einrichtungen zu verbessern.
Die aktuelle Veranstaltung letzte Woche haben wir anlässlich einer positiven Entwicklung tatsächlich durchgeführt. Und zwar gibt es im Bundesgesetz seit diesem Jahr im Sommer tatsächlich eine Vorkehrung dafür, dass in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe Gewaltschutzkonzepte erstellt, werden müssen. Das ist der § 37a Sozialgesetzbuch IX.
Das heißt, dass der Bundesgesetzgeber jetzt geregelt hat: Alle Einrichtungen der Behindertenhilfe müssen sich auf den Weg machen Maßnahmen zur Gewaltprävention zu treffen und ganz konkret Schutzkonzepte zu erarbeiten. Und auf der Veranstaltung in der letzten Woche haben wir uns dann diesem Thema auch gewidmet und haben aber auch noch andere Themenbereiche, die den Gewaltschutz berühren, besprochen. Allen voran auch das Empowerment von Menschen mit Beeinträchtigungen, die selber in den Einrichtungen leben.
Die müssen wissen: "Wenn mir Gewalt passiert, das ist nicht richtig so! Ich muss mich wehren können! Das ist nicht in Ordnung!" Sie müssen lernen, sich abzugrenzen. Und da ist sehr, sehr viel zu tun in Deutschland. Wir beobachten leider ein starkes Machtgefälle in Einrichtungen und ein Versagen. Den Menschen, die dort betreut werden, mangelt es an Privatsphäre, und sie fühlen sich oft fremdbestimmt in den Einrichtungen und trauen sich oft gar nicht, sich abzugrenzen und sich zu äußern. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, um den Gewaltschutz zu verbessern.
Andererseits fehlt es auch noch an der Vernetzung mit dem externen Unterstützungssystem: "Also was ist, wenn Gewalt passiert? Komme ich überhaupt raus aus dieser Institution, aus dieser Einrichtung in den Sozialraum hinein? Und finde ich da Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, die mir dann unabhängig auch helfen bei meinem Problem?"
Das ist auch leider häufig gar nicht gegeben. Das ist ein sehr stark diskutiertes Thema in der Fachgemeinschaft, dass gesagt wird: "Dieses externe Unterstützungssystem ist gar nicht auf das Thema Behinderung eingestellt."
Also die [Einrichtungen] die Gewaltschutz [bereit-]stellen, also Frauenhäuser oder Beratungsstellen zum Gewaltschutz, sind nicht barrierefrei. Sie kommunizieren nicht in leichter Sprache mit den Nutzerinnen und Nutzern, die kommen. Sie können vielleicht keine Gebärdensprache anbieten, auch keine Dolmetschenden vor Ort, so dass das Unterstützungssystem gar nicht zugänglich ist für Menschen mit Behinderung.
Das sind so einige von den Themen, die wir da besprochen haben. Tatsächlich das Thema Gewaltschutz sehr stark davon geprägt, dass wir ganz viele Handlungsnotwendigkeiten haben in der Zuständigkeit von ganz verschiedenen Akteuren. Verschiedene Akteure müssen ins Handeln kommen, damit es zu einer besseren Situation kommt.
Matthias Klaus: Sie haben ja hier deutliche Meinungen und äußern die auch. Würden Sie sich als Aktivisten oder Wissenschaftler betrachten in ihrer Funktion? Oder ist das gar kein Widerspruch?
Britta Schlegel: Hmmmm.
Leander Palleit: Es muss kein Widerspruch sein, aber bei uns, wenn Sie also diese zwei Varianten [zur Auswahl] stellen, dann eindeutig: Wissenschaftler! Unser Auftrag ist ja auch wissenschaftliche Politikberatung und da ist auch unsere Expertise. Und auch das Beobachten, das Monitoring, muss ja auf wissenschaftlicher Basis passieren.
Aktivisten können wir gar nicht sein, wollen wir gar nicht sein. Das ist sowieso viel besser aufgehoben bei den Selbstvertretungsorganisationen. Da haben wir eine ganz eigene Rolle, wo wir auch besser bei unseren Leisten bleiben, würde ich mal sagen.
Matthias Klaus: Ich muss noch eine Frage anschließen, Frau Schlegel vielleicht? Wie ist das mit behinderten Menschen in ihren eigenen Reihen? Gibt es bei Ihnen ein "Nichts über uns, ohne uns" in Personen?
Britta Schlegel: Ja, die gibt es tatsächlich. Also wir haben derzeit ein Team von zwölf Personen, von denen auch einige eine Beeinträchtigung haben. Es ist aber nicht Einstellungsvoraussetzung bei uns. Anders als eine Selbstvertretungsorganisation sind wir ja nur ein wissenschaftliches Forschungsinstitut, was Politikberatung und Forschung verbindet.
Das heißt, wir haben sowohl Menschen mit Behinderung im Team als dass wir auch Menschen ohne Behinderung im Team haben. Wir bemühen uns natürlich da ein Team zusammenzustellen, in dem wir auch sehr viele Expertinnen, Experten in eigener Sache dabei haben. Das stimmt schon. Aber wie gesagt: Es ist keine Einstellungsvoraussetzung bei uns.
Matthias Klaus: Das sind das waren Britta Schlegel und Leander Palleit vom Deutschen Institut für Menschenrechte von der Monitoring-Stelle für die UN-Behindertenrechtskonvention. Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie Zeit hatten, uns zu erklären, woraus Ihre Arbeit besteht, und wünsche Ihnen weiterhin natürlich den besten Erfolg, den Sie haben können mit Ihren Berichten, mit Ihren Einlassungen, auch mit Ihren Einmischungen in die aktuelle politische Entwicklung. Vielen Dank an Sie beide.
Britta Schlegel: Danke.
Matthias Klaus: Herzlichen Dank Ihnen! Das war "Echt behindert!". Mein Name ist Matthias Klaus.
Jingle: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.
Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.