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Echt behindert! 2. Behindertenrechte sind Menschenrechte

25. November 2020

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung. In Folge 2 geht es um die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Wir diskutieren, was das Ganze gebracht hat.

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Zum Podcast geht es hier.

Moderator Matthias Klaus: Behinderung. Barrierefreiheit, Menschenrechte, selbstbestimmtes Leben. Technische Entwicklungen, aber auch politische Themen. All das steht hier und jetzt und in Zukunft auf dem Programm. Dieser Podcast heißt "Echt behindert!" und ich bin Matthias Klaus. Heute zu Gast ist Dr. Sigrid Arnade.

Hallo! Schönen guten Tag, Frau Arnade. Das was Sie sind, nennt man heute gerne Aktivistin. Erzählen Sie doch mal, was Sie eigentlich tun oder was Sie bis derzeit getan haben. Sie hören ja auf damit, soweit ich weiß.

Dr. Sigrid Arnade: Genau. Also ich war bis Ende letzten Jahres bis zum 31.12.19 Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V. in Deutschland. Das ist eine behinderungsübergreifende Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen.

Und wir haben uns eingesetzt für die Verwirklichung von Menschenrechten. Wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention mitkonzipiert und -formuliert. Wir waren auch vorher schon aktiv für die Grundgesetz-Ergänzung 1994 für verschiedene Gesetzesvorhaben.

Und wir sind laufend dabei, gegen die neuen Zumutungen der Regierung anzukämpfen, wenn z.B. Herr Spahn jetzt Menschen, die beatmet werden, einsperren will, dass sie nicht mehr selbstbestimmt in ihrer eigenen Wohnung leben dürfen. Alle solche Dinge versuchen wir eben umzukehren, dass wirklich ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen möglich ist.

Wir sind gleichzeitig die Dachorganisation der rund 25 Zentren für selbstbestimmtes Leben, die es bundesweit gibt. Das sind lokale Organisationen in den meisten großen deutschen Städten, wo behinderte Menschen sich zusammengetan haben und nach dem Prinzip des Peer Counseling, also Betroffene beraten Betroffene, andere Menschen mit Beeinträchtigungen beraten.

Matthias Klaus: Für diese Folge des Podcasts haben wir uns ausgedacht, dass wir das große Ganze machen. Und zwar direkt den großen Wurf die UN-Behindertenrechtskonvention. Das ist ein Übereinkommen von 161 Staaten plus der EU auf der Ebene der Vereinten Nationen, in denen sich die unterzeichnenden Länder zu gewissen Dingen verpflichten.

Dinge, die in ihren Ländern umgesetzt werden, was Behinderte angeht. Das Ganze gilt in Deutschland seit 2009. Letztes Jahr hatten wir zehnjähriges Jubiläum. Das elfte steht kurz bevor. Sie waren damals bei den Entwürfen oder beim Entwickeln dieser UN-Behindertenrechtskonvention dabei. Was haben Sie denn da gemacht?

Dr. Sigrid Arnade: Bei dieser Menschenrechtskonvention, das ist eine von neun Menschenrechtskonventionen, die verhandelt worden sind, war die Zivilgesellschaft so stark beteiligt wie niemals zuvor. Ich war da mit Kolleginnen, um die Rechte von Frauen mit Behinderungen zu verankern. In den ersten Entwürfen zur Behindertenrechtskonvention - die hatten zwar schon ein menschenrechtliches Modell von Behinderung verankert - da fehlte das Thema Frauen total.

Selbst beim Thema Gewalt war irgendwie nur von Persons with Disability, also Menschen mit Behinderung die Rede. Aber die besondere Betroffenheit von Frauen mit Behinderungen wurde überhaupt nicht erwähnt. Da habe ich mir mit Kolleginnen gedacht, das geht nicht so. Wir haben eine Kampagne gegründet, sind dann eben auch nach New York gefahren und es ist letztlich gelungen, doch die Rechte von Frauen mit Behinderungen sehr stark zu verankern in der Konvention.

Matthias Klaus: Was überhaupt drinsteht? Das hören wir jetzt hier mal in einer einminütigen Zusammenfassung. Ganz grob, was enthält die UN-Behindertenrechtskonvention?

Sprecher/Sprecherin:

- Behindertenrechte sind Menschenrechte.

- Diskriminierung aufgrund von Behinderung ist grundsätzlich verboten.

- Behinderte Frauen genießen im Sinne des Diskriminierungsverbots besonderen Schutz.

- Kinder mit Behinderung genießen gleichberechtigt alle Menschenrechte und Grundfreiheiten.

- Die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich zur Barrierefreiheit von Gebäuden, öffentlichem Verkehr und dem barrierefreien Zugang zu Informationen.

- Behinderte Menschen haben vor dem Gesetz dieselben Rechte wie nicht behinderte Menschen.

- Behinderte Menschen werden wirksam vor Folter, Gewalt und Missbrauch geschützt.

- Behinderte Menschen haben das Recht, ihren Wohnort frei zu wählen.

- Sie haben das Recht auf barrierefreien Zugang zu Informationen und zur Inklusion im Bildungsbereich.

- Behinderte Menschen haben das gleiche Recht auf Gesundheitsversorgung, das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie das Recht, mit Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. 

Matthias Klaus: Ja, eine Menge schöner Ziele, sag ich mal - Frau Arnade, sind das ja doch, wenn man das erstmal so einzeln hört. Da denkt man: Hey, natürlich sind Behinderte auch Menschen und natürlich sind sie vor dem Gesetz gleich. Und natürlich haben sie das Recht auf Das. Es ist eine Reihe von Selbstverständlichkeiten, aber dennoch war es nötig. Warum war es denn nötig, sowas in so eine Konvention zu gießen?

Dr. Sigrid Arnade: Also es war nötig deutlich zu machen, dass Behinderung ein Menschenrechtsthema ist, das eben die Diskriminierung von behinderten Menschen eine Menschenrechtsverletzung ist und, dass die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung weniger in ihrer individuellen Beeinträchtigung liegt -weniger daran liegt, dass jemand nicht so gut laufen, nicht so gut sehen, nicht gut hören, nicht so schnell denken kann wie andere. Sondern es sind eher die Probleme in der physischen Umwelt und die Probleme, wie die einstellungsbedingten Barrieren, die es gibt, also die Barrieren in den Köpfen.

Matthias Klaus: Das heißt, die Idee: Behinderung ist nicht nur mein Problem, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Wenn es in der Gesellschaft Änderungen gibt, ist Behinderung kleiner als vorher.

Dr. Sigrid Arnade: Genau. Es gibt zwar keine direkte Definition von Behinderung in der Behindertenrechtskonvention, aber schon eine Art Begriffsbestimmung, dass es nämlich Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen gibt. Dass sie nicht laufen können oder nicht gucken können oder nicht gut hören können oder nicht so schnell denken können oder psychische Beeinträchtigungen haben.

Und es gibt eben die Wechselwirkung mit der Umwelt, die Wechselwirkung mit den physischen Barrieren, Treppen, Stufen, keine Informationen in Audio-Formaten und so weiter und den Wechselwirkungen mit den Barrieren in den Köpfen. Daraus entsteht dann die Behinderung. Das macht die Behinderung aus. Das wird zusammengefasst in diesem Satz, den mal die Aktion Mensch geprägt hat: "Behindert ist man nicht, behindert wird man."

Matthias Klaus: Das ist ja sozusagen wirklich ein Paradigmenwechsel. Das gab es vor 30 Jahren so als Selbstverständnis zumindest in den gesellschaftlichen Kontexten eigentlich nicht. Das war natürlich bei den Aktivisten schon immer die Meinung.

Aber es waren immer die Behinderten, um die man sich jetzt kümmern muss und denen man vielleicht helfen kann oder so, aber dass sie selber auch noch etwas wollen, ist ja wirklich neu. Als das dann damals zur Unterschrift kam, können Sie sich dran erinnern? Hat sich Deutschland da direkt mit drangegeben oder ist es hier auch schwer gefallen, das zu unterschreiben und zu sagen: "Um Gottes Willen, da müssen wir ja auch neue Gesetze machen?"

Dr. Sigrid Arnade: Deutschland gehörte zu den Erstunterzeichnern. Die UN-Vollversammlung hat die Konvention im Dezember 2006 verabschiedet und direkt Anfang 2007 gehörte Deutschland zu den Erstunterzeichnern. Das hieß aber erst mal nur, Wir finden das gut. Wir wollen das gerne in nationales Recht auch umsetzen. Wir wollen das gerne ratifizieren.

Also wenn die Kanzlerin oder der Kanzler sagt, "Finde ich gut", wird es nicht sofort bei uns Gesetz, sondern da müssen eben auch alle Bundesländer zustimmen. Es wird dann ein Gesetz formuliert Bundestag und Bundesrat müssen zustimmen. Das ist ja auch gut so, dass das Ganze dann noch eine Weile gedauert hat. Das ist auch nicht weiter tragisch. Die politische Ebene in Deutschland haben es mit vollem Herzen gesagt, "Ja, finden wir richtig, finden wir gut, machen wir mit", weil sie davon ausging, dass in Deutschland ist schon alles gut und hier sei der Himmel auf Erden für Menschen mit Behinderung.

Dem ist leider nicht so. Aber zunächst mal wurde überhaupt keine Notwendigkeit gesehen, hier irgendetwas zu ändern. Deutlich geworden ist das bei der ersten Staatenprüfung - bei der ersten Überprüfung des UN-Fachausschusses in Genf. Da kam heraus, dass hier doch noch eine ganze Menge im Argen liegt. Als Zivilgesellschaft haben wir uns zusammengetan und haben damals einen guten parallelen Bericht geschrieben.

Der Staat war aufgefordert, zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention einen Bericht aus staatlicher Perspektive zu schreiben. Natürlich haben Sie geschrieben, "Hier ist alles bestens" - kein Handlungsbedarf. Hier stimmt alles". Dann hat die Zivilgesellschaft sich zusammengetan und hat gesagt, "Nee, das stimmt so nicht. Einiges ist zwar ganz gut, aber hier und da und dort gibt es doch noch ganz massive Lücken". Das hat der und Fachausschuss dann auch festgestellt.

Matthias Klaus: Wir haben hier nochmal eine kleine Zusammenfassung, wie es denn heute steht, wie die UN-Behindertenrechtskonvention sich in Deutschland ausgewirkt hat.

Sprecher/Sprecherin:

- Am 26. März 2009 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention von Deutschland unterzeichnet. Seitdem gilt das Recht auf Inklusion, Teilhabe und Barrierefreiheit.

- Behinderte Menschen sollen die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Doch die Arbeitslosigkeit unter Schwerbehinderten ist nach wie vor weit höher als der Durchschnitt.

- Die schulische Inklusion soll vorangetrieben werden. Nur sinkt die Zahl derer, die eine Förderschule besuchen, nur sehr langsam. Zeitweise wird das Konzept inklusive Bildung komplett in Frage gestellt.

- Digitale Informationen sollen barrierefrei zugänglich sein. Doch bislang gilt das nur für staatliche Stellen. Private Medienanbieter bleiben außen vor.

- Ab 2022 soll der gesamte öffentliche Nahverkehr barrierefrei sein. Das ist laut diverser Experten in den nächsten zwei Jahren nicht zu schaffen.

- Immerhin das Selbstbewusstsein behinderter Menschen ist durch die UN-Behindertenrechtskonvention gewachsen. Der Satz "Nichts über uns ohne uns" wird immer mehr zur Selbstverständlichkeit.

Matthias Klaus: Ja, da haben wir's. Es sind eine Menge Punkte, wo man sagen kann "Ja, man ist so auf dem Weg, aber es läuft jetzt noch nicht so ganz". Wie schätzen Sie das ein? Wie weit ist Deutschland da auf dem Weg?

Dr. Sigrid Arnade: Ich fand es eine ganz gute Zusammenfassung. Das wirklich Gute an der Behindertenrechtskonvention ist, dass es eine Empowerment-Konvention ist, dass das Selbstbewusstsein gestiegen ist, dass es deutlich geworden ist für Menschen mit Beeinträchtigungen selber. Dass sie nicht mehr Bittstellerin und Bittsteller sein müssen, sondern dass sie Trägerinnen und Träger von unveräußerlichen Rechten, von Menschenrechten sind und von daher auch viel selbstbewusster ihre Rechte einfordern und zu staatlichen Stellen sagen "Hey, ihr habt das unterzeichnet. Ihr müsst das jetzt auch umsetzen".

Das ist wirklich ein ganz großer, vielleicht auch von staatlicher Seite, unerwarteter Effekt der Behindertenrechtskonvention. Mit der Umsetzung ansonsten: Die ganzen Rechte, zu denen sich der Staat verpflichtet hat, da hapert es doch noch an ganz vielen Ecken. Die Rede war ja schon von Arbeit, Schule, der digitalen Barrierefreiheit. Aber generell Barrierefreiheit ist nur für staatliche Stellen halbwegs vorgeschrieben, aber für private überhaupt nicht.

Ich bin jetzt hier im Haus der Bundespressekonferenz und wollte vorher noch einen Kaffee trinken. Ich kann nicht an die Theke gehen und mir einen Kaffee holen, weil da ein Wassergraben davor ist. Um zu der Bar zu kommen, muss man über Steine springen oder gehen, und das kann ich mit meinem Rollstuhl nicht.

Es ist unglaublich. Mir stand ja erst einmal der Mund ein paar Minuten offen, dass selbst im Haus der Bundespressekonferenz relativ neu renoviert, das nicht barrierefrei ist. Das ist die Gesetzeslage. Es ist ein privater Träger hier, also habe ich keine Chance mir einen Kaffee zu holen. 

Matthias Klaus: Es ist ja ein Riesentheater, wenn man bedenkt, wie im Moment immer wieder untersucht wird: Wie viele Arztpraxen sind barrierefrei, wo man sagen würde Das ist Daseinsvorsorge. Warum passiert das nicht? Da gibt's irgendwie auch letzten Endes kein Gesetz dafür.

Das ist vielleicht eh das Problem: Diese ganzen Regeln, die wir haben und was wir alles wollen und können und müssen. So richtig einklagen kann man die UN-Behindertenrechtskonvention ja nicht. Was kann man denn überhaupt tun? Wie würde das funktionieren?

Dr. Sigrid Arnade: Es ist geltendes Recht. Es ist Recht vom Rang eines Bundesgesetzes. Insofern ist es eigentlich schon einklagbar, wenn es konkret genug gefasst ist. Und das ist eben das Problem, dass es an vielen Stellen zwar allgemein sagt, "der Staat muss dies und jenes tun", aber es gibt wenig Stellen, wo es wirklich einklagbar ist.

Wo es einklagbar ist, ist z.B. der Punkt: freie Wahl von Wohnort und Wohnform. Das ist relativ konkret gefasst. Es ist ja auch mit dem Bundesteilhabegesetz da steht immer noch der Mehrkosten-Vorbehalt drin. Das heißt wenn das Wohnen in der eigenen Wohnung mit z.B. 24stündiger Assistenz teurer wird als ein Heimplatz, können die Sozialbehörden unter gewissen Umständen sagen, "Nein, du wirst jetzt verpflichtet, auch wenn du erst 30 Jahre alt bist, in ein Altenheim zu ziehen, weil da ist eine Versorgung viel günstiger".

Dann kann der Mensch aber eben vor Gericht gehen und sagen: "Hier: Behindertenrechtskonvention! freie Wahl von Wohnort und Wohnform und die Hilfe muss der selbstgewählten Wohnform folgen und nicht umgekehrt!" Die Gerichte müssten eigentlich, wenn sie die Behindertenrechtskonvention richtig verstehen, dem dann auch stattgeben.

Matthias Klaus: Ja, Da steht dann ja immer die Machbarkeit dagegen. Es wird gesagt, "Es geht nicht, wir würden das ja gerne tun Aber das ist viel zu teuer. Wir können uns das nicht leisten". Das ist natürlich eigentlich kein Argument, aber es wird verwendet.

Dr. Sigrid Arnade: Menschenrechte kann man nicht unter Kostenvorbehalt stellen. Menschenrechte kosten manchmal. Zum Glück leben wir in einem Staat, der sich das leisten kann.

Matthias Klaus: Wollen wir hoffen, dass das auch mehr - wie soll man sagen - einklagbar wird. Kostenvorbehalt bei Heimunterbringung ist ein großes Thema im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes. Hat sich das mit diesem Gesetz denn überhaupt verbessert oder ist es eigentlich eher noch schlechter als vorher?

Dr. Sigrid Arnade: Eigentlich ist es genauso schlecht geblieben, wie es vorher war. In den Referentenentwürfen, die uns im Frühjahr 2016 kalt erwischten, da war es wesentlich schlechter als das alte Recht. Wir haben immer gesagt: "Wir haben uns millimeterweise unser altes schlechtes Recht zurück erkämpft. Wir haben uns in der Bannmeile unangemeldet angekettet. Kolleginnen und Kollegen sind in die Spree gesprungen und wir haben auf allen denkbaren Ebenen protestiert und unser altes schlechtes Recht zurück erkämpft." Es ist im Prinzip so geblieben, wie es vorher auch war.

Matthias Klaus: Nochmal zurück zur UN-Behindertenrechtskonvention, die von vier Fünfteln der Länder unterschrieben ist oder vielleicht sogar noch mehr. Wie schlägt sich denn Deutschland im internationalen Vergleich? Sind wir jetzt so "ganz gut" und alle haben dieselben Probleme oder haben wir hier einfach nur die größte Klappe? In anderen Ländern passiert das viel besser? Wie sieht es aus?

Dr. Sigrid Arnade: Also ich glaube, Deutschland ist natürlich ein relativ hoch entwickeltes Land. Von daher haben wir schon mal eine relativ gute Ausgangsbasis. Unser Problem ist unsere Arroganz, dass wir immer denken was wollen die anderen denn? Wir sind doch gut und wir machen doch alles gut und hier ist alles perfekt.

Da sind andere Länder wahrscheinlich um einiges bescheidener und von daher auch eher willens, etwas anders zu machen. Nehmen wir zum Beispiel das Wahlrecht. Sehr lange waren Menschen, die Betreuung haben, ausgeschlossen vom Wahlrecht. Erst durch einige Urteile des Bundesverfassungsgerichtes ist es dann gelungen, dass jetzt wirklich alle Menschen wählen können.

Da war z.B. Kroatien: Das Land hat eben mitgekriegt, wie der UN-Fachausschuss in Genf sich dazu geäußert hat und hat dann von alleine das Wahlrecht so geändert, dass alle Menschen wählen können. Das ging ohne Druck und ohne Gerichtsurteile. Bei uns muss dann wieder erst das Bundesverfassungsgericht dran. 

Oder die Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ins Deutsche ist fehlerhaft. Zum Beispiel ist das englische Wort "Inclusion" mit "Integration" übersetzt worden. Obwohl: im Englischen gibt es Inklusion und Integration. In Deutschland gibt es Inklusion und Integration. Es gab keinen wirklich guten Grund das Falsche zu übersetzen. Es ist aber gemacht worden zusammen mit der Schweiz, Österreich und Liechtenstein.

Eine amtliche deutsche falsche Übersetzung z.B. das Wort Assistenz ist mit Hilfe übersetzt worden. Das hätte man auch mit Assistenz übersetzen können. Inzwischen sprechen wir alle von Inklusion. Wir haben nämlich eine Schattenübersetzung herausgebracht, die richtiger war und die haben auch alle gelesen.

Jetzt sprechen alle von Inklusion. Die deutsche Regierung wollte keine richtige Übersetzung machen lassen, da sie es nicht machen musste. Deshalb reden wir doch alle von Inklusion. Österreich ist bei der Prüfung vom UN-Fachausschuss aufgefordert worden, seine Übersetzung zu ändern. Was haben die gemacht? Die haben eine neue Übersetzung gemacht.

Die haben unsere Schattenübersetzung zum Vorbild genommen und haben sich drangesetzt und haben eine neue Übersetzung gemacht. Österreich hat Deutschland angeboten dieselbe zu machen. Deutschland meinte: "Nein", da es keine Notwendigkeit gibt. Das ist so und so unflexibel. In Deutschland ist alles gut. Wir brauchen nichts zu machen (Ironisch ausgesprochen).

Matthias Klaus: Sie haben aufgehört bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V. und sind jetzt Rentnerin. Sie werden nicht aufhören aktiv zu sein auf dem Feld. Was haben Sie denn vor?

Dr. Sigrid Arnade: Richtig. Ich bin jetzt Rentnerin, aber ich hatte es nicht vor, mich zur Ruhe zu setzen. Vielleicht mache ich ein bisschen was über die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V., über die Bewegung und ihre Erfolge, ein bisschen das Archivieren, die Geschichte dessen schreiben und weiter gegen die Ungerechtigkeit der Welt kämpfen, weiter Schlichtungsverfahren gegen die Deutsche Bahn anstrengen.

Ich könnte auch noch Pressemitteilungen verfassen zu Dingen, die gerade mal wieder nicht gut laufen. Solche Dinge werde ich sicherlich machen. 

Matthias Klaus: Ich denke mal, wir werden noch von Ihnen hören. Vielen Dank, dass Sie heute bei uns waren. Dr. Sigrid Arnade. Mein Name ist Matthias Klaus. Das war "Echt behindert!" Mehr Folgen und mehr Infos unter dw.com/Wissenschaft

Wir freuen uns über Feedback, Anregungen und Kritik.

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Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.