Die mahnende Stimme Falludschas
3. Juni 2016Sie hat es geschafft: Falludscha ist seit Tagen wieder im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Seitdem der irakische Premierminister Haider al-Abadi den Befehl zur Großoffensive auf die Stadt gegeben hat, ist das grausame Schicksal der Menschen dort zur Nachricht geworden.
Unermüdlich hat Liqaa Wardi seit Monaten auf die katastrophale Lage in Falludscha aufmerksam gemacht, hat keine Gelegenheit ausgelassen zu mahnen und anzuklagen. Durch den Belagerungsring, den die irakische Armee schon im Februar um die Stadt gezogen hatte, seien bereits 180 Menschen gestorben. "Die Leute verhungern dort buchstäblich", sagt Liqaa Wardi. "Falludscha wird das irakische Madaya." In der syrischen Stadt Madaya, 40 Kilometer nordwestlich von Damaskus, waren Tausende Menschen sechs Monate lang völlig eingeschlossen und am Rande des Hungertods. In buchstäblich letzter Minute erreichte ein UN-Hilfskonvoi mit Lebensmitteln die belagerte Stadt.
Die Frau aus Falludscha
Besorgt sitzt die 45-jährige Irakerin in dem Hotel gegenüber dem Parlamentsgebäude in Bagdads Grüner Zone. Seit 2010 ist sie Abgeordnete in der irakischen Volksvertretung, die einzige Frau aus Falludscha. "Etwa 10.000 Familien sind noch dort", weiß Liqaa Wardi aus unzähligen Telefonaten, die sie ständig mit den Einwohnern führt. 120.000 Familien seien es gewesen, als sie die Stadt verließ. Das war Ende Januar 2014, einen Tag bevor die Terrormiliz "Islamischer Staat" Falludscha als erste Stadt im Irak gänzlich unter ihre Kontrolle brachte.
"Es waren zunächst kleine bewaffnete Gruppen, die sich überall in Falludscha ausbreiteten, sich zusammenrotteten und schließlich die Stadt übernahmen", erzählt Wardi. Vorausgegangen waren monatelange Proteste im überwiegend von Sunniten bewohnten Falludscha gegen die irakische Regierung und den damaligen Premierminister Nuri al-Maliki. Der verweigerte den Sunniten seines Landes die Teilhabe an der Macht, begünstigte Schiiten überall und ließ schließlich das Protestlager in Falludscha gewaltsam von der Armee auflösen. Die Stadtverwaltung kollabierte, es war ein Leichtes sie zu übernehmen. Als vier ihrer Mitarbeiter gekidnappt wurden, ging Liqaa weg. Mann und Kinder zogen ins kurdische Erbil, sie selbst blieb in Bagdad.
Schweigende Mehrheit leidet
Inzwischen haben die selbsternannten Gotteskrieger sich in Falludscha breit gemacht, haben die Verwaltung übernommen, ihre eigenen Regeln und Gesetze erlassen, sie gnadenlos durchgesetzt. Wardi hat erfahren, dass einige der Einwohner dagegen aufbegehren wollten und die Dschihadisten mit Messern angriffen. Doch sie hatten keine Chance und wurden kurzerhand erschossen.
Die Gesellschaft sei gespalten, einige Stammesführer unterstützten den IS, aber die Mehrheit schweige und habe keinen Anteil am politischen Prozess in Falludscha. "Die schweigende Mehrheit aber ist es, die jetzt leidet", weiß die Abgeordnete, deren Smartphone ständig neue Nachrichten und Informationen empfängt. In Falludscha selbst sei der Strom derzeit zwar abgeschaltet und auch das Internet funktioniere nicht, aber die Menschen aus den Dörfern ringsherum würden berichten. Der IS habe genug Nahrungsmittel für die nächsten fünf Jahre gehortet, sagt Wardi, gebe aber nur denen zu essen, die auf seiner Seite sind. "Wer nicht an Hunger stirbt, hat Diabetes und Nierenprobleme." Nach anfänglichen Fortschritten ist die Militäroffensive zur Rückeroberung Falludschas ins Stocken geraten. Die Regierungstruppen liegen jetzt in Stellungen in den Außenbezirken.
Sie sei schon immer nah an den Menschen dran gewesen, antwortet die Abgeordnete auf die Frage nach ihrem Werdegang als Politikerin. Schon als Oberschullehrerin wusste sie um die Sorgen und Nöte der Bevölkerung.
Nach den beiden verheerenden Militäroperationen der Amerikaner gegen Falludscha 2004 beklagte sie die steigende Krebsrate in der Stadt und vermutete den Gebrauch von angereichertem Uran durch die US-Armee. Später dann, als Abgeordnete veröffentlichte sie einen Untersuchungsbericht, der ihre Vermutungen bestätigte. Falludscha wurde zum Symbol für das Desaster der US-Intervention. Nirgendwo sonst gab es so viel Widerstand gegen die Besatzer wie in Falludscha, nirgendwo sonst sind so viele amerikanische Soldaten gefallen, nirgendwo sonst wurde so viel zerstört. Falludscha wurde zum Albtraum für die USA.
Kein Foto auf Wahlplakat
Als Liqaa Wardi in die Politik einstieg, schrieb die von der US-Administration durchgedrückte neue irakische Verfassung eine Frauenquote von 25 Prozent in allen Volksvertretungen vor, sowohl auf nationaler, wie auf Provinzebene. "Vor allem Frauen ermutigten mich zu kandidieren", erzählt die Lehrerin. Gleichwohl durfte ihr Foto nicht auf den Wahlplakaten erscheinen. Eine Frau als Politikerin war in der islamisch-konservativen Gesellschaft von Falludscha nicht passend. Vor allem die Dörfer und Gemeinden um die Stadt herum seien ziemlich rückständig. Dort habe sich auch der IS mit seiner Scharia-Mentalität leicht ausbreiten können.
Die Städter seien "zivilisierter", so Wardi. Jetzt brauche sie sich nicht mehr zu verstecken, sagt die Abgeordnete aus Falludscha, die mittlerweile ihre zweite Legislaturperiode im Parlament bestreitet. "Jetzt respektieren sie mich und haben Hoffnung, dass ich etwas für sie tue." Während ihre Parlamentskollegen sich bereits in die Sommerpause verabschiedet haben, ist Wardi dabei, einen Korridor für diejenigen aus ihrer Stadt zu organisieren, die fliehen wollen. "Und das sind die meisten", weiß sie.
Aus der Stadt selbst schaffte es bislang kaum jemand zu fliehen. "Die (IS-Kämpfer, Anm. d. Redaktion) benutzen die Menschen als Geiseln", sagt die Abgeordnete, "und lassen niemanden raus". Lediglich aus den umliegenden Dörfern und Gemeinden seien etwa 4000 Menschen vor den Kampfhandlungen geflohen. Einen Korridor für die sichere Flucht aus Falludscha gebe es nicht, entgegen den Beteuerungen der Regierung.
Außerdem habe sich seit der Flüchtlingswelle aus dem benachbarten Ramadi herumgesprochen, dass die Sunniten in den schiitischen Provinzen nicht willkommen seien. "Die glauben, alle Sunniten gehören dem IS an", gibt Wardi als Erklärung. "Sie rächen sich an uns."
In ihrer Verzweiflung ging Liqaa zur iranischen Botschaft und bat dort um Unterstützung. "Unsere Regierung ist schwach, da musste ich zu den Starken gehen." Die Iraner haben Hilfe versprochen.