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Die Macht der Märtyrerlogik

Markus Symank, Kairo17. August 2013

Die ägyptische Führung setzt weiter auf Konfrontation, doch die Muslimbrüder geben nicht auf. Um die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu drehen, ist ihnen offenbar kein Opfer zu groß. Eine Analyse von Markus Symank.

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Großaufnahme eines demonstrierenden Muslimbruders in Kairo (Foto: REUTERS/Louafi Larbi)
Bild: Reuters

Die Gefallenen des Tages sind noch nicht gezählt, da ruft die ägyptische Muslimbruderschaft bereits zu neuen Protesten auf. Gleich eine ganze "Woche des Widerstandes" soll es diesmal werden. Das kündigte die islamistische Gruppe am Freitagabend an. Die Auflehnung gegen die von der Armee eingesetzte Übergangsregierung bezeichnete sie als "islamische, nationale und moralische Pflicht". Zuvor hatten bei schweren Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften rund um den Ramses-Platz in Kairo erneut Dutzende Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi das Leben verloren. Das Innenministerium sprach von mindestens 173 Toten landesweit.

"Im algerischen Bürgerkrieg sind 100.000 Menschen gestorben. Wir sind bereit, denselben Preis zu zahlen", sagt ein junger Islamist, dem anstelle eines Vollbartes erst etwas Flaum auf der Oberlippe wächst. Die Märtyrerdoktrin der Muslimbruderschaft hat er aber bereits verinnerlicht: "Der Koran ist unsere Verfassung. Der Dschihad unser Weg. Der Tod für Gott unser nobelster Wunsch."

Abgehärtet durch Jahre im Untergrund

Die Ägypter durchleben die blutigste Woche in der modernen Geschichte ihres Landes. Seit Mittwoch haben mehr als 1000 Personen gewaltsam ihr Leben verloren. Die überwiegende Mehrheit der Opfer stammt aus der Muslimbruderschaft. Dennoch geben die Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi nicht klein bei. Dass beinahe die gesamte Führung der Gruppe hinter Gittern sitzt, spielt dabei kaum eine Rolle. Nach jahrzehntelanger Verfolgung unter den Präsidenten Gamal Abdel Nasser und Hosni Mubarak sind die Muslimbrüder darin geübt, in kritischen Situationen Disziplin zu bewahren. Die Zeit im Untergrund hat ihren Willen gestählt.

Sicherheitskräfte räumen die Kairoer al-Fath-Moschee in Kairo (Foto: REUTERS/Muhammad Hamed)
Kämpfe im Gotteshaus: Sicherheitskräfte räumen die al-Fath-Moschee in KairoBild: Reuters

Auch nun, nach dem Sturz vom Gipfel der Macht, sitzen die alten Reflexe noch. Vielleicht hat der Militärputsch die Muslimbrüder sogar noch enger zusammengeschweißt: Ein eindrückliches Video, das am Freitag in der Kanalstadt Suez aufgenommen worden sein soll, zeigt, wie eine Gruppe Islamisten unter Beschuss der Sicherheitskräfte kommt. Die Menge stäubt auseinander, ein Mann geht zu Boden. Ohne lang zu zögern machen ein halbes Dutzend Demonstranten kehrt, um den Verletzten aus der Schusslinie zu tragen.

Der Tod wird mit einkalkuliert

"Es ist mir gleichgültig, ob ich sterbe", sagt Ali Scherif, ein älterer Demonstrant, auf dem Weg zur Demonstration in der Metro. Viel wichtiger sei, dass die Welt aufwache und begreife, dass in Ägypten eine neue Militärdiktatur am Entstehen sei. "Ich habe in Amerika studiert, ich arbeite als Arzt, ich verdiene viel Geld. Doch ohne Freiheit bedeutet mir das alles nichts", so Scherif.

Sicherheitskräfte räumen ein Protestcamp in Kairo. Anhänger der Muslimbrüder kommen mit erhobenen Händen aus dem Camp. (Foto: STR/AFP/Getty Images)
Ein Jahr lang stellten sie den Staatspräsidenten. Jetzt kämpft das Militär gewaltsam gegen die Muslimbrüder.Bild: STR/AFP/Getty Images

Die demonstrativ zur Schau gestellte Todesverachtung ist ein Markenzeichen der Gruppe. Das Blut der "Märtyrer" ist aus ihrer Sicht der Treibstoff, der ihre Revolte am Laufen hält. Auch prominente Mitglieder der Gruppe befinden sich unter den Opfern: Am Freitag verlor ein Sohn des Muslimbruderführers Mohammed Badie sein Leben. Am Mittwoch war bei der Stürmung des Protestlagers vor der Moschee Rabea al-Adawija im Nordosten Kairos bereits die Tochter des hochrangigen Funktionärs Mohammed Beltagi gestorben.

Propaganda-Krieg

Die Muslimbrüder spekulieren darauf, dass ihnen die Opferrolle Sympathien zurückbringt, die sie durch ihr desaströses Jahr an der Regierung eingebüßt haben. Auch sind sie darauf bedacht, ihren Protest nicht als Konflikt einer politischen Gruppe gegen den Staat darzustellen, sondern als zweiten Aufstand der Massen. Die Organisatoren der Demonstrationen vermeiden nach Möglichkeit das Wort "Muslimbruderschaft". Lieber sprechen sie von einer "Anti-Coup-Allianz". Das klingt neutraler.

Mehrere zugedeckte Leichen liegen in einer Kairoer Moschee. (Foto: REUTERS/Amr Abdallah)
Moscheen werden zu Leichenhäusern: Die Muslimbrüder haben die meisten Toten zu beklagenBild: Reuters

Doch bislang gibt es nur wenige Anzeichen dafür, dass es der Gruppe gelingen könnte, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu drehen. Während die Armee die TV-Sender der Islamisten längst abgeschaltet hat, überschütten die staatlichen Medien das Volk rund um die Uhr mit nationalistischer Propaganda.

"Gewalt durch nichts zu rechtfertigen"

Nur vereinzelt schließen sich auch Nicht-Islamisten dem Protest gegen Armee und Sicherheitskräfte an. Ibrahim, ein schlaksiger Student, der dem linken Parteienspektrum angehört, hält die Muslimbrüder für "durchgeknallt". Trotzdem ist er am Freitag beim Protest auf dem Ramses-Platz dabei. Er wolle sein Land davor bewahren, erneut in eine Militärdiktatur abzugleiten, sagt er. Die Ermordung hunderter Demonstranten sei durch nichts zu rechtfertigen.

Auch in der Regierung zeigen sich erste Risse. Vizepräsident und Friedensnobelpreisträger Mohammed el-Baradei hatte bereits nach dem Armeemassaker am Mittwoch sein Amt niedergelegt. Nun schloss sich ihm der Sprecher der Nationalen Rettungsfront an, das wichtigste säkulare Parteienbündnis des Landes. Mehrere Minister sollen Medienberichten zufolge ebenfalls laut über einen Rücktritt nachdenken.

Die Hardliner in der Übergangsregierung lassen sich jedoch von ihrem Kurs nicht abbringen. Offenbar erwägen die neuen Machthaber nun sogar, die Muslimbruderschaft gesetzlich verbieten zu lassen. Ein entsprechender Schritt werde derzeit geprüft, ließ Ministerpräsident Hasem al-Beblawi bereits wissen.