Zum Tod von Milan Kundera
12. Juli 2023Seine Bücher handeln von Menschen, ihren Gedanken, Gefühlen und Absichten. Milan Kunderas Spezialität aber waren Beziehungsromane. Wie eben auch sein Welterfolg: "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", der die Geschichte einer Dreiecksbeziehung vor der Kulisse des Prager Frühlings erzählt. Das Epos machte Kundera 1984 schlagartig weltbekannt.
Der 1929 im tschechischen Brünn (Brno) geborene Kundera lebte über Jahrzehnte in Frankreich. Die damalige sozialistische Tschechoslowakei (CSSR) hatte dem Schriftsteller nach der Veröffentlichung des Romans "Das Buch vom Lachen und Vergessen" 1979 die Staatsbürgerschaft entzogen. Kundera lebte da bereits im Pariser Exil. Erst 2019, 40 Jahre nach seiner Ausbürgerung, erlangte Kundera die tschechische Staatsbürgerschaft.
Interviews beantwortete Kundera - wenn überhaupt - nur noch schriftlich, Übersetzungen seiner Bücher ließ er prüfen und überarbeiten. Der Autor lebte zurückgezogen. Mit dem erzwungenen Exil hat er offenbar nie gehadert: "Es gibt diesen Traum von einer Rückkehr nicht", sagte er einmal in einem Interview mit der Wochenzeitung "DIE ZEIT". "Ich habe mein Prag mitgenommen, den Geruch, den Geschmack, die Sprache, die Landschaft, die Kultur."
Die Tschechen mussten auf eine Rückkehr lange warten, es wurde zunächst eine literarische: Erst ab den 1990er-Jahren erschienen Kunderas spätere Romane auf Tschechisch; das bekannteste Werk, "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", sogar erst 2006.
Sozialistische Schauplätze
Nicht nur die tschechische Kultur hatte Milan Kundera geprägt, sondern mehr noch das sich Zurechtfinden als Schriftsteller im Sozialismus. Als Abiturient trat er 1948 enthusiastisch in die Kommunistische Partei ein, zwei Jahre später schloss diese ihn wegen "feindlichen Denkens und individualistischer Neigungen" wieder aus. Das hatte Folgen: Kundera musste sein Studium unterbrechen, das er gerade erst begonnen hatte - zunächst Musik- und Literaturwissenschaft, dann Regie und Drehbuch an der Filmakademie.
Sein Debüt als Schriftsteller gab er 1953 mit dem Gedichtband "Der Mensch - ein weiter Garten". Schon darin setzte er sich, jedoch in kommunistischer Grundhaltung, mit dem sozialistischen Realismus auseinander. Später sollte er erneut der Kommunistischen Partei beitreten - und abermals ausgeschlossen werden. Eine schwierige Beziehung.
Die "individualistischen Neigungen", die ihm die KP beim ersten Rauswurf vorwarf, wurden spätestens ab den 1960er-Jahren zum Knackpunkt: Kundera schrieb humoristische Erzählungen, die 1970 in der CSSR als Gesamtausgabe im "Das Buch der lächerlichen Liebe" erschienen. Die meist tragischen Geschichten bewegen sich in dem Kundera-typischen Spannungsfeld aus Liebe und Politik, Humor und Ernst, Leichtigkeit und Melancholie. Mit der gewaltsamen Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1968 endete auch die Phase der Presse- und Kulturfreiheit in der Tschechoslowakei. Der Autor wurde zur Persona non grata. Als Verfechter des Reformkommunismus wurde er 1969 aus dem Verband der Schriftsteller und 1970 erneut aus der Partei ausgeschlossen, seine Lehrtätigkeit an der Filmakademie unterbunden, seine Theaterstücke vom Spielplan gestrichen, seine Publikationen verboten und aus dem Buchhandel entfernt.
Französisches Exil
Doch Kundera schrieb weiter, ohne Rücksicht auf die Zensur. Er rechnete mit seiner kommunistischen Vergangenheit ab - in "Das Leben ist anderswo" (1973) und in "Abschiedswalzer" (1976). Der Autor wusste, dass er in der Tschechoslowakei nicht mehr veröffentlicht werden würde. Beide Werke erschienen jetzt in Frankreich, dem Land, das ihm 1975 dank eines Lehrauftrags in Rennes und später in Paris Zuflucht bot.
Auch im Exil trieb Kundera seine literarischen Themen voran, ebenfalls weiter vor tschechoslowakischer Kulisse. Da er bereits des Landes verwiesen war, blieb der sozialistischen Führung 1978 nur noch der Entzug der Staatsbürgerschaft, als "Das Buch vom Lachen und Vergessen" erschien. Als Kundera 1984 "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" herausbrachte, landete der Roman weltweit auf den Bestsellerlisten und machte Kundera zum Star. Der Roman wurde später mit Juliette Binoche und Daniel Day Lewis in den Hauptrollen erfolgreich verfilmt.
Es war das rechte Buch zur rechten Zeit, eine poetische Antwort auf die Realität des Kalten Krieges. Spätere Werke wie "Die Unsterblichkeit" (1988), "Die Langsamkeit" (1994), "Die Identität" (1996) und "Die Unwissenheit" (2000) fanden zwar ebenfalls Beachtung, reichten an frühere Erfolge aber nicht heran. "Die Langsamkeit" und alle weiteren Bücher schrieb Kundera auf Französisch. Einigen Literaturkritikern waren diese Romane zu philosophisch und essayistisch, andere lobten den Autor als wegweisenden Moralisten, als Kritiker der westeuropäischen Zivilisation und Postmoderne.
Ein Verräter?
Dann holte ihn noch einmal der Sozialismus ein: 2008 wurde der Vorwurf laut, Kundera habe 1950 einen Oppositionellen verraten, der daraufhin mehrere Jahre im Arbeitslager verschwand. Angeblich belegte ein Protokoll der tschechischen Geheimpolizei die Aussage.
Doch war es wirklich Kundera, der diese Aussage gemacht hatte? Oder hatte sich ein anderer als Milan Kundera ausgeben? "Ich bin völlig überrumpelt von etwas, das ich nicht erwartet habe, von dem ich noch gestern nicht einmal etwas wusste und das nicht passiert ist", sagte der Schriftsteller damals der tschechischen Nachrichtenagentur. Tatsächlich fehlt unter dem Dokument seine Unterschrift.
Kundera gab dazu keine Stellungnahmen mehr. Nach Tschechien reiste er inkognito, allerdings hielt er das bereits vor dem Verratsvorwurf so. Als ein Akt später Aussöhnung trug ihm der damalige tschechische Regierungschef Andrej Babis 2018wieder die tschechische Staatsbürgerschaft an. 2019 nahm Kundera sie an.
Alterswerk des Romanciers
2014 erschien nach mehr als zehnjähriger Pause Kunderas Roman "Das Fest der Bedeutungslosigkeit". Darin flanieren vier Männer durch Paris und erzählen - in bekannt humorvoller und tragischer Kundera-Manier - von persönlichen Hindernissen. Das langersehnte Buch verkaufte sich europaweit erfolgreich, die Kritiker indes waren hin- und hergerissen. Die einen lobten den Roman als "Meisterwerk", andere sprachen von einem "verkrampften Alterswerk". Jetzt ist Milan Kundera, der große Romancier und Essayist, im Alter von 94 Jahren in Paris gestorben.