Die ewigen Gefangenen von Guantánamo
11. Januar 2022Eine typische Guantánamo-Bilanz liest sich etwa so: 14 Jahre lang saß Mohamedou Ould Slahi in Guantánamo hinter Gittern. 70 Tage lang wurde er gefoltert, drei Jahre lang 18 Stunden am Tag verhört.
Slahi, der vor seiner Verhaftung auch in Deutschland lebte, stand im Verdacht, eine führende Rolle bei Al-Kaida zu spielen und in die Terroranschläge vom 11. September verwickelt zu sein, doch Beweise dafür gab es nie. Slahi wurde in den 14 Jahren in Guantánamo nie angeklagt oder verurteilt. Der heute 50 Jahre alte Mauretanier kam am Ende frei, entschädigt wurde er für seine gestohlene Lebenszeit nicht.
Strafverteidigerin Nancy Hollander beschäftigt ihr wohl prominentester Fall noch heute. Vor kurzem fand Slahis Geschichte als Kinofilm "Der Mauretanier" ihren Weg auf die Leinwand. Das Vergehen des Mannes war es, an einem Terrorcamp in Afghanistan teilzunehmen, erinnert sie sich, und einen Anruf vom Satelliten-Telefon des Al-Kaida-Führers Osama bin Laden entgegengenommen zu haben. Zweifelsohne wirft das nicht das beste Licht auf Slahi, zur Anklage reicht es jedoch nicht.
Die USA seien durch Guantánamo zu einem Land geworden, "das rechtsstaatliche Prinzipien nicht respektiert", sagt Hollander und spricht von einer "katastrophalen Situation". Das gelte nicht nur für die 13 Inhaftierten, die ohne Anklage festgehalten werden und seit Jahren freigelassen werden sollen, sondern auch für die mutmaßlichen Beteiligten am Attentat vom 11. September. Diese sogenannten ewigen Gefangenen, warten ebenfalls bis heute auf ihren Prozess - 20 Jahre nach den Anschlägen.
Rechtssystem systematisch außer Kraft gesetzt
Dieser Mangel an Rechtsstaatlichkeit ist kein Zufall, er war das Ziel der damaligen US-Regierung unter George W. Bush, sagt Guantánamo-Expertin Daphne Eviatar von Amnesty International. "Die Regierung schuf ein Offshore-Gefängnis, um das Rechtssystem der Vereinigten Staaten gezielt außer Kraft zu setzen", sagt Eviatar.
In einem Amnesty-Bericht zur Situation in Guantánamo prangert sie umfassende Menschenrechtsverletzungen an. Dazu gehören die zeitlich unbegrenzte Inhaftierung ohne Anklage sowie Folter der Insassen. Zwar liegen hierzu keine offen zugänglichen Informationen vor, aber Eviatar kann sich auf verschiedene Untersuchungen berufen, einschließlich einer des Geheimdienstausschusses des US-Senats, nach der Dutzende Männer in Guantanamo brutal gefoltert wurden.
Der US-Navy-Stützpunkt Guantánamo Bay in Kuba existiert als Marinestützpunkt bereits seit mehr als hundert Jahren. Erst im Januar 2002 wurde er, wenige Monate nach den Anschlägen vom 11. September, um ein Internierungslager erweitert, das seitdem für Guantánamos zweifelhafte Berühmtheit sorgt.
Anthony Natale, der den vermeintlichen Al-Kaida-Terroristen Abd al-Rahim al-Nashiri vor Gericht verteidigt, spricht offen über seine Enttäuschung über Guantánamo. "Wir haben alles aufgegeben, was dieses Land zu einem freien Land macht, mit gleichem Recht für alle."
Pressezensur und Anwesenheitspflicht
Wer sich ein eigenes Bild von Guantánamo machen möchte, hat mehrere Hindernisse zu überwinden. Das erste ist üblicherweise der kubanische Luftraum, den die wöchentlichen Charterflugzeuge aus Washington nicht kreuzen dürfen. Das Flugzeug muss Kuba zunächst östlich umfliegen und darf erst im Landeanflug Kurs auf die Militärbasis nehmen.
Aus der Luft gibt es den ersten Blick auf die berüchtigte Basis. Am Fuße einer kahlen Bergkette sieht man die Bucht von Guantánamo, im Westen liegt der Flughafen, im Osten liegen der Marinestützpunkt, das Militärgericht Camp Justice sowie das Gefangenenlager.
Die Zusage für unseren Besuch haben wir nach wochenlanger Sicherheitsüberprüfung ganz kurzfristig erhalten, vor der Abreise mussten noch die sogenannten Ground Rules unterschrieben werden. Dort wird festgelegt, was man als Journalist in Guantánamo zu erwarten hat: keine Bewegungsfreiheit und vor allem keine Pressefreiheit.
Das Gefängnis dürfen wir nicht mal von außen besichtigen und alle Informationen aus dem Inneren unterliegen strengster Geheimhaltung, was vor allem Anwälte der Inhaftierten regelmäßig zur Verzweiflung treibt. Nancy Hollander kämpfte sieben Jahre vor Gericht dafür, dass ihr Mandant Mohamedou Ould Slahi sein Guantánamo-Tagebuch veröffentlichen durfte.
Leben im Schatten des Folterknasts
Wer an Guantánamo denkt, hat vermutlich in erster Linie Folter und Stacheldraht vor Augen. Tatsächlich sind das Gefangenenlager und das Militärgericht nur ein kleiner Teil der Basis. In weiten Teilen gleicht der Navy-Stützpunkt einer US-Kleinstadt.
Gezeigt wird uns die neue High School, die 65 Millionen US-Dollar gekostet hat und erst vor kurzem eröffnet wurde - ausgestattet mit modernster Technik. 220 Kinder aller Altersgruppen sollen hier eine möglichst normale Kindheit erleben, wenngleich in nur fünf Kilometern Luftlinie der vermeintliche Strippenzieher von 9/11 auf seinen Prozess wartet. Schuldirektor Emilio Garza erklärt, dass das Gefangenenlager hier trotzdem nicht auf dem Lehrplan stünde.
Einen Supermarkt gibt es hier, Wohngebiete, die an US-Vorstadtidylle erinnern, und den einzigen McDonald's auf kubanischem Boden. Bei Radio GTMO läuft lateinamerikanische Popmusik - GTMO, gesprochen Gitmo, ist die Abkürzung für die Guantánamo Bay Naval Base. Im Souvenirshop können Besucher T-Shirts mit dem ironischen Aufdruck "Rockin' in Fidel's Backyard" kaufen - in Guantánamo lebt der "Máximo Líder" Fidel Castro noch weiter.
Radiomoderatorin Annaliss Candelaria, in Tarnfarben-Uniform am Mikrofon, moderiert morgens um acht die Morning Show. Unterhaltung, Musik, auch mal ernste Themen wie Selbstmord kommen in die Sendung. Vor allem gehe es darum, die "Moral in der Truppe zu stärken", sagt Candelaria.
Über die gerade laufenden Vernehmungen vor dem Militärgericht berichtet Radio GTMO nicht, ebenso wenig über das Gefangenenlager, das einfach nicht "Teil der Kultur" des Marinestützpunkts sei, sagt Candelaria. Tatsächlich sind alle Einrichtungen des Gerichts und des Gefängnisses für die meisten der 6000 in Guantánamo lebenden Personen nicht zugänglich. "Wir wissen darüber auch nur das, was wir in den Medien lesen", sagt die Moderatorin.
Pläne, Pläne, Pläne
Es ist ein denkwürdiger Geburtstag, den das Gefangenenlager Guantánamo am 11. Januar begeht. Er wirft vor allem die Frage auf, warum das Lager bis heute noch existiert, trotz offenkundiger Verletzungen von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit - und vor allem, weil der Anti-Terror-Krieg seit dem Truppenabzug aus Afghanistan Geschichte ist und damit auch die Existenzgrundlage des Gefangenenlagers.
Erste Pläne, Guantánamo zu schließen, gab es am Ende der Regierungszeit George W. Bushs. Sein Nachfolger Barack Obama versprach die Schließung mehrmals, verlor dann aber bald die Mehrheit im Kongress an die Republikaner. Die wiederum brachten ein Gesetz auf den Weg, dass es "niemandem, der jemals in Guantánamo inhaftiert war, erlaubt ist, in die USA zu kommen, egal aus welchem Anlass", sagt Rechtsanwältin Nancy Hollander. Damit sei eine Verlegung der Insassen aufs US-amerikanische Festland allein rechtlich unmöglich.
Viele Beteuerungen - keine Taten
Präsident Donald Trump wechselte den Kurs anschließend und kündigte an, Guantánamo auch zukünftig offen zu halten. Laut Republikanern schützt das Internierungslager weiterhin vor Terrorangriffen, eine Verlegung der Insassen in die USA sei zu gefährlich. Guantánamo-Gegner argumentieren wiederum damit, dass allein die Existenz des Lagers für junge Muslime schon ein Grund sei, sich zu radikalisieren.
Die nächste Kehrtwende in der Guantánamo-Politik folgte unter Präsident Joe Biden, der nach seinem Amtsantritt über seine Sprecherin verkünden ließ, er plane, das Lager während seiner Amtszeit zu schließen. Als neulich wieder der Geheimdienstausschuss des US-Senats zum Thema tagte, tauchte dort jedoch kein einziger Vertreter der Biden-Regierung auf. Das zeige vor allem, wo die Prioritäten der Regierung lägen, die bislang "keinerlei Versuche unternommen hat, ihren Worten Taten folgen zu lassen", sagt Nancy Hollander.
Gefangen trotz Mangel an Beweisen
Tatsächlich hat die Biden-Regierung mit ihrem gescheiterten Infrastruktur-Programm und den nahenden Zwischenwahlen bei gleichzeitigem Umfragetief nun wohl größere Probleme als das Lager in Guantánamo. Was die Zukunft für die Gefangenen von Gitmo bringt, ist daher völlig offen. Ein Teil von ihnen könnte wie geplant entlassen werden. Andere könnten mittels Abkommen mit ihren Herkunftsländern dorthin zurückgeführt werden.
Daphne Eviatar von Amnesty International blickt daher optimistisch in die Zukunft. "Während die Zahl der Insassen immer kleiner wird, wird auch deutlicher, wie absurd alles ist." Denn klar ist auch: Ein Gefangener kostet die US-Steuerzahler 13 Millionen US-Dollar pro Jahr.
Günstiger wäre die Inhaftierung in den USA zu haben. Das wiederum sei - abgesehen von den rechtlichen Hürden - aber auch nicht die Antwort, sagt Nancy Hollander und fordert die sofortige Freilassung der Gefangenen von Guantánamo. "Wir können nicht einfach Menschen 20 Jahre gefangen halten, ohne sie anzuklagen, weil es angeblich nicht genug Beweismaterial gegen sie gibt, aber dann gleichzeitig behaupten, irgendwie seien sie trotzdem gefährlich."
Die Frage nach der Zukunft Guantánamos lässt sich längst nicht mehr mit rationalen Argumenten beantworten. Sie wurde, wie so vieles in den USA, zum Spielball der Politik, in dessen Schatten die ewigen Gefangenen seit 20 Jahren auf ihren Prozess warten.