"Die Europäer sind naiv"
16. November 2015"Man muss es einmal sagen: Die Europäer sind ein bisschen naiv. Sie wissen, dass es Moscheen mit radikalen Predigern gibt, und sie tun nichts dagegen. Sie könnten diese Moscheen schließen, aber sie tun es nicht. Das muss sich ändern."
Ein Algerier mittleren Alters ist zur Schweigeminute in der Pariser Moschee gekommen. Nach einer Schweigeminute wird ein Gebet für die Toten gesprochen. Am Ende erklingt - kurz, einige Takte lang, und etwas leise – die Marseillaise, die französische Nationalhymne.
Viele Muslime spüren die wachsende Abneigung gegenüber dem Islam und versuchen, dagegen zu argumentieren. "Der IS tut etwas im Namen des Islam, das mit dem Islam nichts zu tun hat. Das kann nicht so weiter gehen", sagt der algerische Moschee-Besucher im Gespräch mit der DW. Ähnlich wie er sehen es viele hier. Mit dem Islam, versichern sie, habe der IS-Terror nichts zu tun. Und Europa verhalte sich allzu zurückhaltend.
Das entspricht auch der Auffassung von Dalil Boubakeur, Direktor der Großen Moschee. Er habe absolut kein Verständnis für das, was geschehen ist. Das sei furchtbar und gehöre auf jeden Fall bekämpft, und zwar mit allen Mitteln. Frankreichs Präsident Hollande erteilt er für seinen Anti-Terror-Kampf fast einen Freischein. "Die Politik muss jetzt handeln, und zwar mit allen Mitteln. Und alle Mittel, die etwas bewirken, sind gut", erklärt er im Gespräch mit der DW.
Damit trifft er offenbar den Nerv vieler, die zur Schweigeminute, und vor allem zu dem darauf folgenden Gebet gekommen sind. Nicht alle wollen etwas sagen. Sie verweisen auf den Sprecher der Moschee – er könne Auskunft geben. Sie sagen es freundlich, nicht abweisend, sondern eher ratlos. Man könnte, so offenbar die Sorge, etwas sagen, was unpassend ist und die Muslime noch weiter in Bedrängnis bringt.
Eine verwundbare Stadt
"Natürlich bringt man den Islam mit dem IS-Terror in Verbindung", sagt ein junger Mann nach dem Gebet. "Man bringt das zusammen, und dagegen sind wir fast machtlos." Was man denn dagegen tun könne? Der junge Mann mit dem dichten Bart schaut ratlos drein, fast ein bisschen melancholisch. "Ich weiß es nicht, einen schönen Tag noch", antwortet er und verabschiedet sich.
In Paris ist man sehr höflich in diesen Tagen. Die Anschläge haben noch einmal die Verwundbarkeit der Metropole und ihrer Einwohner verdeutlicht. Umso mehr freuen sich Journalisten und die immer wieder zum Interview gebetenen Gläubigen über ein Lächeln ihres Gesprächspartners. Man muss reden, heißt es. Auch über die Ursachen der Gewalt. Gerade jetzt.
Doch wo soll man anfangen? Oder anders gesagt: Wo liegt die Ursachen für die Gewalt? Mit den Antworten machen es sich die Befragten nicht leicht. Eine der Standarddeutungen, die Radikalisierung junger Menschen gehe auch auf die Armut und Chancenlosigkeit vieler Muslime in Frankreich zurück, lässt der algerische Moschee-Besucher nicht gelten. "Viele Menschen sind arm", sagt er. "Aber Verbrechen verüben sie trotzdem nicht." Die Ursache läge woanders: bei den radikalen Predigern. Gegen sie muss man vorgehen, und zwar mit aller Entschiedenheit."
Golfstaaten am Pranger
Abderrahmane Dahmane, Berater von Boubakeur, wird deutlicher. "Es sind die Golfstaaten", sagt er. "Einige von denen exportieren einen radikalen Islam, sie fördern den Extremismus. Sie vergiften unsere Religion. Dagegen muss man vorgehen." Vorwürfe richtet er auch gegen Frankreichs ehemaligen Präsidenten, Nicolas Sarkozy. "Er hat sich sehr hart über den Islam geäußert. Das hat viele Muslime verletzt." Aber das sei kein Grund für die Anschläge. "Das ist Terrorismus."
Doch wie man gegen den Terror vorgeht, auf diese Frage weiß kaum jemand eine Antwort. "Auch ich habe in den Banlieus gelebt", erklärt eine junge Muslimin. Sie ist mit drei Freundinnen zum Gebet gekommen. Bereitwillig geht sie auf die Fragen ein. Natürlich sei die soziale Lage schwierig, und es müsse sich etwas ändern. Aber auch für sie ist ganz klar: "Was da geschehen ist, das ist Terrorismus. Und der ist nicht entschuldbar."
Die Antwort auf die Terror-Anschläge, so sehen es viele Muslime, müsse die Politik geben. Für etwas problematisch hält die junge Moschee-Besucherin allerdings Frankreichs militärisches Engagement im Nahen Osten. "Vielleicht sollte Hollande zunächst einmal das eigene Land in Ordnung bringen", sagt sie. "Danach könnte er sich dann um den Rest der Welt kümmern."
Seit langem hat sich die Großmoschee von Paris einen sehr guten Ruf erworben. Sie engagiert sich für einen gemäßigten Islam, der zum Selbstverständnis der Republik passt. Nicht umsonst wird Direktor Dalil Boubakeur regelmäßig von Politikern um ein Gespräch gebeten. Aber es gibt auch andere, weniger wohlmeinende Imame in Frankreich, die radikalen Prediger. Gegen sie müsse man mit allen Mitteln vorgehen, sagt Boubakeur. "Sie greifen die Gesellschaft als ganze an."