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Die Chance für "Kohls Mädchen"

Hans Jürgen Mayer24. Mai 2005

Noch ist nicht ausgemacht, ob es im Herbst zur Bundestagswahl kommt. Bundespräsident oder Bundesverfassungsgericht könnten es verhindern. Wenn gewählt wird, wird es wohl eine Kanzlerin geben, meint Hans Jürgen Mayer.

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Für den Bundeskanzler sind Neuwahlen die letzte Chance - und die Männerriege der Unionsparteien haben sie um ihre letzte Chance gebracht, doch noch Angela Merkel als Kanzlerkandidatin zu verhindern. Die Pfarrerstochter und promovierte Physikerin aus der Mark Brandenburg, oft als "Kohls Mädchen" verspottet, hat von ihrem Ziehvater, dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, eines gelernt: Wie man sich im politischen Leben durch- und Rivalen wegbeißt. Merkel steht genau im richtigen Moment da als DIE Parteichefin, die ihre innerparteilichen Gegner ausmanövriert und die CDU aus dem Sumpf der Spendenaffäre 1999/2000 herausgezogen hat.

Der Verzweiflungscoup des Kanzlers passt in ihren Zeitrahmen: Jetzt ist es zu spät für parteiinterne Rivalen - etwa CDU-Ministerpräsidenten wie den Niedersachsen Christian Wulff oder den Hessen Roland Koch - ihren Hut in den Ring zu werfen und die Debatte über die Kanzlerkandidatur noch einmal zu eröffnen. Ihnen bleibt nur noch eines: Alles zu tun, damit Angela Merkel den von ihr verkündeten "Lagerwahlkampf" gegen Rot-Grün überzeugend gewinnt und sich mit attraktiven Ministerposten erkenntlich zeigt. Zieht Gerhard Schröder wider alle Erwartungen den Hals aus der Schlinge, könnten sie immer noch den "Plan B" aus der Tasche ziehen: Deutsche Christdemokraten behandeln Wahlverlierer wenig christlich - das würde auch die Kanzlerkandidatin zu spüren bekommen.

Bislang spricht alles dafür, dass die CDU-Vorsitzende als erste Frau ins Kanzleramt einziehen wird. Erst dann kann es für sie richtig gefährlich werden. Denn die Union wird es bis dahin tunlichst vermeiden, klar zu sagen, wie kräftig sie das Renten- und Gesundheitssystem zurückstutzen will, was übrig bleiben wird vom Sozialen der Markwirtschaft. Nach einem Wahlsieg aber ist Klartext fällig. Dann muss die Union nach alter Erfahrung die Grausamkeiten zur Ankurbelung der Wirtschaft begehen, die ihr dann in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode die Ernte einbringen soll - nämlich die Wiederwahl als Sanierer Deutschlands.

Doch viel mehr, als noch weiter als Rot-Grün auf die Wünsche der unersättlichen Wirtschaftsverbände nach Steuersenkungen, Senkung der Lohnnebenkosten und Deregulierung einzugehen, haben die Unionsparteien nicht zu bieten. Ihr Motto lautet: Mit uns kommt die gute Stimmung, kommt der Aufschwung, kommen die Arbeitsplätze. Kommen die dann nicht, weil die Binnenkaufkraft weiter fehlt und durch die Globalisierung qualifizierte Arbeit weiterhin dorthin abwandert, wo - nach deutschen Maßstäben - für Hungerlöhne gearbeitet wird, kann sich der Wind rasch gegen das schwarz-gelbe Lager drehen.

Das sozio-ökonomische Konzept der Union wirkt wenig überzeugend - und Angela Merkel verkörpert diese Substanzlosigkeit der Partei. Das intellektuelle Potential der Partei repräsentieren andere - wie Friedrich Merz, der von ihr kaltgestellte Steuerexperte Nr. 1 der Partei und ihr Vorgänger als CDU-Chef, Wolfgang Schäuble, der - anders als Merkel - auf vorsichtige Distanz zu Goerge W. Bush bedacht ist. Hätte Merkel vor drei Jahren anstelle von Gerhard Schröder handeln können, stünde die Bundeswehr vielleicht heute an Euphrat und Tigris. Jetzt steht Angela Merkel das Tor zum Kanzleramt weit offen. Doch der Mantel des Kanzlers ist weit - und ihn auszufüllen, erfordert mehr als Machtinstinkt.