Die Brutalität der belarussischen Polizei
3. Dezember 2020Seit August 2020 immer dasselbe Bild: Belarussische Sicherheitskräfte gehen mit äußerster Brutalität gegen Regimekritiker vor. In den ersten drei Tagen der Proteste nach der offenbar manipulierten Präsidentenwahl setzten sie gegen friedliche und unbewaffnete Demonstranten Wasserwerfer, Blendgranaten und Gummigeschosse ein. Menschen wurden schwer verletzt, manche sogar getötet. Besonders hart war der Umgang mit Festgenommenen, die im Okrestina-Gefängnis der Hauptstadt Minsk landetet und dort unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten wurden.
Wie konnte es dazu kommen? Was sind die Gründe für die Brutalität der belarussischen Sicherheitskräfte?
Gibt es einen "Freibrief" für Gewalt?
Zu Gewaltanwendung durch belarussische Sicherheitsbeamte ist es in der Regentschaft von Machthaber Alexander Lukaschenko immer wieder gekommen, auch 2006 und 2010 während der Proteste nach den damaligen Präsidentenwahlen. Aber eine solch beispiellose Grausamkeit, wie jetzt, "hat man Belarus seit den 1990er Jahren nicht mehr gesehen", sagt Andrej Sytko, ehemaliger Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft, der heute als Experte im Bereich Sicherheit tätig ist. Früher seien Polizisten stolz darauf gewesen, nie zu speziellen Mitteln und Maßnahmen zu greifen und Demonstranten sogar "auf Händen getragen" zu haben.
Igor Makar sieht dies anders. Er war früher stellvertretender Kommandeur der Kampfgruppe "Almas", einer Anti-Terror-Einheit des belarussischen Innenministeriums, die auch heute an der Auflösung von Demonstrationen beteiligt ist. Makar findet, dass die belarussischen Sicherheitskräfte schon immer in ihrem Vorgehen hart waren. "Früher gab es einfach nicht derart massive und lang anhaltende Proteste, daher gab es auch nicht solch große Einsätze gegen Demonstranten. An diesen sind heute absolut alle Dienste beteiligt", so der ehemalige Sicherheitsbeamte.
Die Gesprächspartner der DW sind sich sicher, dass die Sicherheitskräfte derzeit eine Art "Freibrief" für Gewalt haben, um auf den Straßen für Ordnung zu sorgen. Andrej Sytko sagt, die Bedingungen, unter denen die Sicherheitskräfte arbeiten müssten, würden Brutalität begünstigen. Die Männer stünden permanent unter höchster Alarmbereitschaft, würden keinen Tag frei und auch keinen Urlaub bekommen. Sie müssten ihren Einheiten ständig zur Verfügung stehen.
Der Experte schließt nicht aus, dass die Männer auch psychisch unter Druck gesetzt werden. "Sie sind von alternativen Informationsquellen abgeschnitten, die Stimmung wird aufgeheizt und man sagt ihnen, sie würden das Land und vor allem sich selbst, ihre Frauen und Kinder real verteidigen. Man sagt ihnen, nach einem Wahlsieg eines alternativen Kandidaten oder nach einem Machtwechsel müssten sie mit äußerst harten Maßnahmen rechnen - von Strafen bis hin zur Räumung ihrer Wohnung", so Sytko.
Das Problem der Straflosigkeit
Was hinter Gefängnismauern geschieht, stellt die Gewalt der Sicherheitskräfte auf der Straße noch in den Schatten und lässt sich kaum mit der Angst um Frau, Kind und Wohnung erklären. Belarussen, die am 9. und 11. August im Okrestina-Gefängnis saßen, berichteten später, dort ständig geschlagen worden zu sein. Sie hätten auf dem Boden knien müssen, hätten weder Essen noch Wasser bekommen. Zudem hätten sie die offizielle Staatshymne singen und "Ich liebe OMON" rufen müssen. Laut Menschenrechtsaktivisten ist es in der Haftanstalt auch zu Vergewaltigungen gekommen.
Ex-Almas-Kommandeur Igor Makar hält es für unwahrscheinlich, dass die Führung der Sicherheitsorgane dieses Vorgehen befohlen hat. Foltermethoden anzuwenden, sei höchstwahrscheinlich "von unten" ausgegangen, also von den im Gefängnis diensthabenden Beamten selbst. "Vielleicht will man den Oberen gefallen, indem man Gewalt anwendet, um so zu erreichen, dass die Menschen aus Angst nicht mehr zu Kundgebungen gehen. Aber der Zusammenhalt der Menschen wurde unterschätzt. Er nahm sogar noch zu, als die Fälle von Folter bekannt wurden", sagt der einstige Angehörige der Spezialeinheit.
Sowohl Makar als auch Sytko, beide ehemaligen Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane sind überzeugt, dass vor allem die Wahrscheinlichkeit, unbehelligt davonzukommen, einer der wichtigsten Gründe für die Aggressivität der Einsatzkräfte ist. Denn bisher sei kein einziges Strafverfahren gegen Beteiligte eingeleitet worden. "Straflosigkeit führt zu Willkür", betont Andrej Sytko. Und Igor Makar weiß aus Gesprächen mit Sicherheitsbeamten, dass sie gar nicht daran denken, die Gewalt zu stoppen: "Sie alle wissen, dass alle ihre Gräueltaten aufgezeichnet werden. Sie halten alle zusammen und wollen auf keinen Fall, dass dieses Regime fällt, denn dann wird jeder für seine Taten Verantwortung übernehmen müssen."
Ex-Staatsanwaltschaftsmitarbeiter Sytko fügt noch hinzu, es sei falsch zu glauben, in den Sicherheitsbehörden würden Sadisten arbeiten. Solche Leute würden noch in den Testphasen ausgesiebt: "Ein wichtiges Kriterium ist jedoch die Bereitschaft, Befehlen und Entscheidungen von Vorgesetzten blind zu folgen. Man bevorzugt diejenigen, die nicht philosophieren."
In der Natur des Menschen?
Der belarussische Psychotherapeut Konstantin Minkewitsch meint, Grausamkeit und Aggression liege in der Natur des Menschen: "Am liebsten wäre uns die Vorstellung, die Sicherheitskräfte seien mit etwas gefüttert worden oder hätten einen Chip in ihren Kopf implantiert bekommen. Aber nein, die Geschichte der Menschheit kennt viele solcher Beispiele. Menschen, die über Macht verfügen und keiner Kontrolle unterstehen, werden aggressiv und grausam."
Minkewitsch zufolge verhalten sich die Einsatzkräfte so brutal, nur weil man sie lasse. "Abgehalten werden könnten sie durch Angst vor Verantwortung sowie durch rechtliche Mechanismen, die in demokratischen Ländern funktionieren und den Missbrauch von Gewalt stoppen, aber das funktioniert in Belarus nicht", sagt der Psychotherapeut. Er glaubt, auch das Ausmaß der Proteste spiele eine Rolle. "Wenn man nur gegen eine Gruppe von Menschen vorgeht, dann ist es eine Sache, und eine anderes ist es, wenn es ein Meer von Menschen ist. Die OMON-Kräfte haben vielleicht selbst Angst vor dem, was passiert, und mit Aggressionen kompensieren sie diese Angst", so Minkewitsch.
Ihm zufolge ist es nicht schwierig, die Männer gegen die Menschen aufzuhetzen, wenn man sie davon überzeugt, sie seien im Recht und würden gegen Feinde vorgehen. "Wenn die Menschen überhaupt nicht im Geiste humanistischer Ideale erzogen wurden, dann kann man sie leicht auf den Gedanken bringen, andere würgen zu müssen, um nicht selbst erwürgt zu werden", so der Psychotherapeut.
Adaption: Markian Ostaptschuk