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Die Bedeutung des 9. Mai 1945 für Russland

Ingo Mannteufel9. Mai 2005

Das Leiden der Russen im Zweiten Weltkrieg war unermesslich. Der "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland wird deshalb bis heute aufwändig gefeiert. Doch die enorme Symbolik verhindert eine kritische Erinnerung.

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Das Kriegsdenkmal der "Mutter Heimat" in Wolgograd, dem früheren StalingradBild: DW
60 Jahre Danach - Bildgalerie - Wolgograd 11/20
Deutsche Infanterie bei den Strassenkämpfen um Stalingrad (undatiertes Archivbild).Bild: dpa

Die Kapitulation der deutschen Armee 1945 – nach damaliger Moskauer Uhrzeit am 9. Mai – wird in Russland traditionell groß gefeiert. Das Ritual ist seit Stalins Zeit nahezu dasselbe geblieben: Am "Tag des Sieges" paradieren Armeeeinheiten und Kriegsveteranen über den Roten Platz in Moskau, von Lenins Mausoleum aus halten die Mächtigen des Landes ihre Gedenkrede. Doch nicht nur in der Hauptstadt wird dem großen Leid im Zweiten Weltkrieg gedacht. In ganz Russland finden unzählige Gedenkveranstaltungen statt, werden Blumen an Denkmälern niedergelegt.

Russlands beliebtester Feiertag

Zu Sowjetzeiten war die pompöse Parade am 9. Mai nicht nur ein Ausdruck der kommunistischen Propaganda, die damit die Überlegenheit des sowjetischen Systems dokumentieren wollte. Die Feierlichkeiten waren auch ein natürliches Bedürfnis der Bevölkerung: Denn in nahezu jeder Familie gab es Kriegsveteranen oder Menschen, die die Härten der Heimatfronten durchlitten hatten. Der Jahrestag hatte damit auch für die Nachkriegsgenerationen eine private Dimension.

Die Wertschätzung des "Tag des Sieges" als Feiertag ist daher bis heute in der russischen Bevölkerung außerordentlich hoch: Nach dem Neujahrstag ist der 9. Mai laut Umfragen der beliebteste Feiertag in Russland. Rund 60 Prozent aller Russen gaben 2004 an, den "Tag des Sieges" feierlich zu begehen. Mehr als 70 Prozent halten ihn für den wichtigsten Gedenktag und wollen ihn als Feiertag erhalten. Dagegen konnte Präsident Putin Ende 2004 ohne großen gesellschaftlichen Protest den Jahrestag für die bolschewistische Machtergreifung am 7. November 1917 abschaffen.

Eingeschränktes Geschichtsbild

Die enorme Symbolkraft des "Tag des Sieges" und seine fest gefügten Rituale verhindern jedoch in der russischen Gesellschaft eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. In der 1995 zum 50. Jahrestag des "Tag des Sieges" eingeweihten Denkmalanlage "Poklonnaja gora" in Moskau wird nicht vom Zweiten Weltkrieg, sondern in sowjetischer Tradition vom "Großen Vaterländischen Krieg von 1941 bis 1945" gesprochen. Die Folge: In großen Teilen der Bevölkerung herrschen weiterhin Unkenntnis und Stereotypen sowjetischer Geschichtsinterpretationen vor. Das gilt beispielsweise für Stalins Unterstützung beim deutschen Angriff auf Polen (Hitler-Stalin-Pakt), die brutale Besetzung der baltischen Staaten, Polens und Bessarabiens von 1939 bis 1941, die krassen Fehleinschätzungen der sowjetischen Führung vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, die zu hohen Verlusten und Hundertausenden von Kriegsgefangenen führten, und es gilt auch für das fürchterliche Leid, was deutsche, polnische, ukrainische und andere Zivilisten beim Vormarsch der Roten Armee Richtung Berlin erfuhren. Erst recht betrifft das die Tatsache, dass die sowjetischen Rotarmisten zwar ihr Land von der deutschen Okkupation befreiten, aber zugleich die mittelosteuropäischen Staaten besetzten und dort stalinistische Regime installierten.

Sowjetischer Sieg als postsowjetisches Instrument

Die verzerrte Erinnerung ist auch in der Politik und Gedenkkultur der beiden russischen Staatschefs Jelzin und Putin begründet. Sie ließen eine kritische Auseinandersetzung in ihren Ansprachen erst gar nicht zu. Vielmehr nutzten sie die patriotischen Empfindungen vieler Russen am "Tag des Sieges", um an die Einheit der Bevölkerung zu appellieren. Die soziale und ethnische Zerrissenheit der heutigen russischen Gesellschaft, der Schmerz über den Verlust des sowjetischen Imperiums und die Bedrohungen durch den Terrorismus machen den Sieg im Zweiten Weltkrieg zu einem zukunftsfähigen Instrument der Politik. Seit vergangenem Jahr nehmen daher auch nicht mehr Veteranen des Zweiten Weltkrieges an der Parade teil. Stattdessen paradieren neben Armeeverbänden Veteranen aus den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien sowie Einheiten des Katastrophenschutzministeriums.