Deutschlands Militärrabbiner haben nun ein offizielles Amt
4. Juli 2024"Bis ich neun Jahre alt war, hatte ich keine Ahnung, dass ich jüdisch bin", erzählt Zsolt Balla. Heute ist der 45-Jährige schon seit 15 Jahren orthodoxer Rabbiner. Seit drei Jahren baut der gebürtige Ungar als erster Militärbundesrabbiner die jüdische Seelsorge bei der Bundeswehr auf. Und er ist längst einer der bekanntesten Rabbiner in Deutschland.
Als Balla 2021 sein Amt im Grunde als 'Einzelkämpfer' antrat, begleiteten ihn eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit sowie gute Wünsche aus Politik und jüdischen Verbänden. Nun leitet er zusammen mit einer Regierungsdirektorin eine richtige Behörde: das "Militärrabbinat”. Balla ist für religiöse Fragen zuständig. Die Behörde eröffnete am 4. Juli offiziell in Berlin-Mitte ihr Amt. Das Militärrabbinat ist nur einige Schritte vom Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland, dem Leo-Baeck-Haus, entfernt. Und es sind nur wenige Gehminuten bis zum Katholischen Militärbischofsamt auf der anderen Seite der Spree.
"Zusammenzugehen, zusammen eine Zukunft aufzubauen - das ist die Aufgabe der jüdischen Militärseelsorge", sagt Balla. Dabei habe das Judentum "sehr viel zu geben". Das gelte "nicht nur für jüdische Soldaten, sondern für jeden Soldaten". Die Seelsorger sollten für jeden Angehörigen der Bundeswehr da sein, der ein Gespräch wünsche. Mit dieser offenen Grundhaltung steht er für das neue jüdische Leben in Deutschland. Balla zählt zu den beiden ersten in Deutschland ausgebildeten orthodoxen Rabbinern nach 1938, die auch im Land ordiniert wurden.
Wie viele Juden gibt es in der Bundeswehr?
Allerdings ist die Zahl der Bundeswehr-Angehörigen jüdischen Glaubens unbekannt. Seit langem spricht das Verteidigungsministerium offiziell von rund 300 jüdischen Soldaten. Das "Militärrabbinat” betont aber nun in seinen Erläuterungen, es gebe keine Zahlen zu jüdischen Soldatinnen und Soldaten bei den Streitkräften.
Ballas eigener Weg zum religiösen Leben ist typisch für viele junge Juden in Deutschland. Als Kind in Ungarn las Balla gern die Bibel, aber die "extended version", wie er bei einem Besuch der Bundeswehr-Universität 2022 erzählte, die christliche Bibel mit Altem und Neuem Testament. Sie sei sein Lieblingsbuch gewesen. Als er mit neun Jahren seiner Mutter verkündete, er wolle zur religiösen Unterweisung in die christliche Bibelschule gehen, begann diese mit dem Sohn das Gespräch und berichtete von der jüdischen Geschichte der Familie. Einer jüdischen Familie ohne gelebte religiöse Tradition.
Vor 22 Jahren, im Sommer 2002, kam Balla als studierter Ingenieurwissenschaftler nach Deutschland, "eigentlich nur für ein Wochenende" in einer jüdischen Einrichtung. Er habe bis dahin ein "absolut stereotypes Bild" von jüdischem Leben in Deutschland gehabt, sagt er. "Und plötzlich traf ich junge Menschen, gut ausgebildet. Und in ihrer Freizeit engagierten sie sich in jüdischem Lernen."
Aktuell fünf Militärrabbiner im Dienst
Nun leistet der Sohn eines einstigen Artillerie-Kommandeurs der ungarischen Volksarmee seit drei Jahren Aufbauarbeit. Mittlerweile konnte er fünf Geistliche in ihr Amt als Militärrabbiner einführen; eine weibliche Kollegin gibt es noch nicht. Irgendwann sollen zehn orthodoxe oder liberale Geistliche an Bundeswehr-Standorten als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Sie werden auch Lebenskundlichen Unterricht geben, den die Bundeswehr für Soldatinnen und Soldaten als ethische Qualifizierung vorsieht. Ende Februar 2024 ging erstmals bei der Bundeswehr ein Militärrabbiner mit in einen Einsatz. Konstantin Pal begleitete für mehrere Wochen einen Schiffsverband im Nordatlantik.
Balla bewertet die Etablierung der jüdischen Militärseelsorge durch einen Staatsvertrag der Bundesregierung mit dem Zentralrat der Juden Ende 2019 und seine Einführung als erster Militärbundesrabbiner als "große historische Veränderung". Er spricht von "ungeheurer Dankbarkeit, in einem Land leben zu dürfen, das sich seiner Vergangenheit gestellt hat". In der Tat war seine feierliche Amtseinführung im Juni 2021 einer der großen Momente des Festjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland".
Bei der Einweihung des Dienstsitzes in Berlin waren die politischen Reden wichtig, gerade der Beitrag von Verteidigungsminister Boris Pistorius. "Die Jüdische Militärseelsorge hat einen festen Platz in der Truppe", so der Minister. "Eine lebendige jüdische Militärseelsorge tut uns gut."
Aber die Aufmerksamkeit der Geistlichen richtete sich vor allem auf die Zeremonie zur Fertigstellung einer Torarolle. Mit den Gästen wurden feierlich die letzten Buchstaben der Tora geschrieben, der heiligsten Schrift der Juden. Dann wurde die Schriftrolle in einer feierlichen Prozession ins Militärrabbinat gebracht. Künftig soll dieses Exemplar deutsche Militärrabbiner in Auslandseinsätze begleiten und zur Religionsausübung bereitstehen.
Bald nach dem russischen Angriff auf die Ukraine positionierte sich Balla bei der Bewertung militärischer Gewalt. Für das Judentum, erörterte er in der "Jüdischen Allgemeinen", stehe "der Schutz des Lebens über allem - auch über dem Frieden". Dazu könne der Einsatz von Waffen gehören. Und er zitierte den Schoa-Überlebenden Rabbiner Gábor Lengyel: "Wir deuten das 'Nie wieder' unterschiedlich: Viele Nichtjuden meinen 'Nie wieder Krieg', Juden hingegen meinen 'Nie wieder Vernichtung'."
Versorgung mit koscheren Speisen
Eine konkrete Aufgabe ist die Sorge um die Versorgung jüdischer Soldaten im Auslandseinsatz mit Lebensmitteln, die nach den jüdischen Speisegesetzen erlaubt sind. Wer das für schwierig hält: Die US-Armee versorgt alle ihre Soldaten im Ausland selbstverständlich mit "koscherer" Verpflegung.
Das passt dazu, dass sich Balla vor allem als Seelsorger versteht, nicht als Zuständigen für die politische Bildung in der Truppe. Aber die Seelsorger könnten durchaus in die Gesellschaft und in die Bundeswehr hineinwirken. Beispielsweise, um ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen.
Balla machte übrigens früh deutlich, dass er "unbedingt" für Imame in der Bundeswehr sei. Wie das geregelt werden könne, wisse er nicht. Die Muslime in Deutschland seien anders organisiert als die Juden. Ihm sei es aber selbst schon passiert, dass ein muslimischer Soldat mit ihm das seelsorgerliche Gespräch gesucht habe. Nach wie vor hat die Bundesregierung keine Regelung erreicht, die die geistliche Versorgung muslimischer Soldaten vorsieht.