Juden zwischen Unbehagen und Vertrauen
15. September 2020"Wir dürfen uns über blühendes jüdisches Leben in Deutschland freuen." Herzlich würdigt Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Festrede den Zentralrat der Juden in Deutschland. Sie verweist darauf, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland heute "die drittgrößte Europas" sei, dass das neu gewachsene jüdische Leben "ein konstitutiver Teil" Deutschlands sei. Dabei hätten sich viele Überlebende der Schoah, sagt die Kanzlerin, nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-45) kein Leben in Deutschland vorstellen können.
Der Zentralrat der Juden begeht sein 70-jähriges Bestehen. Bereits im Juli jährte sich der Gründungstag, der 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main. Nun feiert das Spitzengremium der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland mit ihren gut 100.000 Mitgliedern in Berlin. Unter den knapp 150 Gästen die große Berliner Prominenz: Merkel hat sieben ihrer Ministerinnen und Minister dabei. Die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat sind da, Spitzenvertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien außer der rechtspopulistischen AfD. Auch Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998-2005) und sein damaliger grüner Außenminister Joschka Fischer werden begrüßt; sie sorgten 2003 für den ersten Staatsvertrag mit dem Zentralrat und damit für die rechtliche Grundlage einer breiten Zusammenarbeit auf vielen Feldern.
An symbolschwerer Stätte
Eine prominent besetzte Feier, an einem Ort mit großer Symbolik: Für Touristen ist die Große Synagoge in Berlin-Mitte mit ihrer 50 Meter hohen goldenen Kuppel ein Muss. Abendlichen Flaneuren oder späten Nachtschwärmern wiederum fallen die Polizisten auf, die hinter massiven Pollern das Gebäude bewachen. 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Immer. Jüdisches Leben in Deutschland braucht Polizeischutz.
Auf dieser trotz aller Sicherheitsaufgeregtheit idyllisch anmutenden Hoffläche stand früher die große Synagoge Berlins. Sie war die größte Synagoge im Deutschen Reich und bot Platz für 3.000 Gläubige. Dank des Eingreifens eines mutigen Berliner Polizisten hatte sie die judenfeindlichen Pogrome vom November 1938 weitgehend unbeschadet überstanden und wurde von der jüdischen Gemeinde noch bis 1940 genutzt.
Dann aber missbrauchte die Wehrmacht den Sakralbau als Lagerhaus. Nach einem Bombentreffer 1943 brannte sie aus, 15 Jahre später, 1958, wurde zu DDR-Zeiten die Hauptsynagoge gesprengt. Erst zwischen den Jahren 1988 bis 1995 wurde der zur Straße gelegene Teils des Gebäudes wiedererrichtet. Seither prägt die Kuppel das Viertel. Aber doch ist es nur eine Erinnerung.
Erinnerung und Aufbruch
"Es ist sehr viel Phantasie nötig, um sich die einstige Größe vorzustellen", sagt Josef Schuster in seiner Rede. "Und so steht dieser Platz hier eben auch für das, was verloren gegangen ist." Damit ist der 66-Jährige bei der Doppelrolle, die der nun 70 Jahre alte Zentralrat bis heute hat: Die Erinnerung an Leid und Verlorenes, aber auch der Aufbruch und Neuaufbau für Zukünftiges. "Die Gründerinnen und Gründer der Jüdischen Gemeinden und des Zentralrats der Juden gaben Deutschland einen riesigen Vertrauensvorschuss", sagt Schuster.
Und doch. Beide Redner, Schuster und Merkel, kommen von dem Aufbruch 1950 und dem Mut des Neuanfangs auf die Sorgen der Gegenwart. Der Zentralrats-Präsident zählt Anschläge auf, beklagt schwindenden Respekt, wachsendes Unbehagen der Juden in Deutschland. "Leise stellt sich die Frage, wie sicher wir noch in diesem Land leben können…" Und er beklagt die Wucht von Verschwörungsmythen im Netz, bei denen der Judenhass dazugehört. "Das Gedankengut der Nazis ist ist noch immer nicht verschwunden."
Merkels Rede
Auf Schusters Rede folgt erst Geigenmusik, dann ein beeindruckender Film über die Anfänge der jüdischen Gemeinde nach der systematischen Verfolgung unter den Nazis bis zur Vielfalt jüdischen Lebens heute. Schließlich tritt die Bundeskanzlerin ans Mikrofon. Während der ersten Minuten ihrer Rede verhaspelt sie sich zwei, drei, vier Mal. Ungewöhnlich für den Politikprofi.
Aber dann kommt sie auf die neuen Ängste, das Gefühl der Unsicherheit vieler Jüdinnen und Juden zu sprechen, diese "neue Lebenswirklichkeit", die ihr "große Sorgen" mache. "Es ist eine Schande und beschämt mich zutiefst, wie sich Rassismus und Antisemitismus in unserem Land in diesen Zeiten äußern…" An dieser Stelle spricht Merkel klar, etwas lauter, ohne jeden Versprecher. Beleidigungen, Drohungen und Verschwörungstheorien richteten sich offen gegen jüdische Bürger. "Dazu dürfen wir niemals schweigen", fordert sie. "Wir wissen, wie schnell aus Worten Taten werden können."
Der Schock von Halle
Es gibt ein Foto, aufgenommen vor knapp einem Jahr, am Abend. Da steht Angela Merkel vor diesem Gebäude in der Oranienburger Straße. Die Bundeskanzlerin wirkt, als hätte sie abends noch einmal den Mantel übergezogen, um spontan die wenigen Minuten von ihrer Wohnung über die Spreebrücke vorbei am Bodemuseum zu dieser Synagoge zu gehen.
Links und rechts wird sie flankiert der Rabbinerin Gesa Ederberg und der Kantorin Avitall Gerstetter, beide singend. Hinter Merkel ist einer ihrer Leibwächter zu sehen. Aus dem Gesicht der Politikerin spricht Schock. Es ist Abend des 9. Oktobers 2019; es ist Jom Kippur, der Versöhnungstag, der höchste jüdische Feiertag. Aber es ist der Abend nach dem Anschlag eines Rechtsextremisten in Halle. Zwei Menschen wurden ermordet. Und nur die stabile Holztür an der Synagoge dort hatte ein Blutbad in dem vollbesetzten Gotteshaus verhindert
Dieser Tag hat sich eingebrannt in das Bewusstsein vieler Juden im Land. Und bei der Jubiläumsfeier an diesem sonnigen Septembertag kommt Merkel auch auf den Anschlag von Halle zu sprechen. Antisemitismus sei ein Angriff auf "Menschen, die Menschlichkeit und das Menschsein an sich". Er trete seit geraumer Zeit "enthemmter" auf. Und sie mahnt. Alle. Wo Bildung und Aufklärung nicht ausreichten, da sei "der Rechtsstaat" mit allen Konsequenzen gefordert. Besorgte Worte. Nachdem die letzte Musik verklungen ist, gehen viele rasch und zugleich ruhig davon. Nach einer festlichen, aber vor allem nachdenklichen Stunde.