Antisemitismus bleibt landesweites Problem
25. Dezember 2019Ja, sagt Margitta Neuwald-Golling aus der Jüdischen Gemeinde Köln. Sie habe Antisemitismus bereits in der Schule erlebt, als ein Lehrer ihr ins Gesicht sagte, "dich hätte man unter Hitler vergast". Und sie fügt im Gespräch mit der Deutschen Welle hinzu: "Das passiert allenthalben. Nach solchen Fällen muss man nicht lange suchen."
Aber Neuwald-Golling, langjährige Vizepräsidentin des Europäischen Rates der karitativen Frauenorganisation "Women's International Zionist Organisation" (WIZO), ist eine sprachliche Unterscheidung besonders wichtig. Sie spricht von Judenhass und nicht von Antisemitismus. "Das Wort Antisemitismus ist für mich ein Kunstwort, mit dem man wissenschaftlich versucht, es irgendwie zu definieren. Aber dahinter steckt Judenhass. Denn es geht ja hier bei Antisemitismus wirklich nur um Juden."
Die Schilderung von Neuwald-Golling ist eine fast typische Antwort, wenn man am Rande des Jüdischen Gemeindetages kurz vor Weihnachten in Berlin Teilnehmer fragt, ob sie denn Antisemitismus selbst erlebt haben. Da ist die ältere Frankfurter Jüdin, die der DW schildert, wie sie erst vor wenigen Wochen von ihrer Nachbarin im Treppenhaus angesprochen wurde und nach einigen Worten zur Lage der Juden in Deutschland für das Verhalten Israels gegenüber dem Gaza-Streifen beschimpft wurde. "Ich kenne sie seit Jahrzehnten, habe ihre Kinder aufwachsen sehen und begleitet", sagt sie immer noch fassungslos. Oder Berlins Gemeinde-Rabbiner Yehuda Teichtal, der, mit einem seiner Kinder unterwegs, Ende Juli auf offener Straße von zwei Männern auf Arabisch beschimpft und bespuckt wurde. "Das ist etwas Schreckliches, was niemand erleben sollte", sagt er.
Kein Verständnis für die Politiker
Antisemitismus im Alltag, deutsche Normalität im Jahr 2019. Doch beim Gemeindetag dominieren bei diesem Thema keine Klagen, keine Angst. Aber man spürt rasch die Empörung über Äußerungen aus der Politik. Niemand hat Verständnis dafür, dass Politiker nach dem furchtbaren Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, von einer "unvorstellbaren" Tat sprachen. Gut vier Monate vor Halle starb der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, kein Jude, durch Schüsse eines Rechtsextremisten. "Natürlich hat sich keiner von uns ein Attentat auf eine Synagoge vorgestellt", sagt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Gespräch mit der DW. Aber mit der brutalen Ermordung Lübckes "war eigentlich klar, dass von rechtsextremistischen Einzeltätern alles Mögliche und leider auch Unmögliche denkbar ist".
"Ich war ja nach dem Attentat in Halle wahnsinnig schockiert darüber, dass auch hochrangige Politiker unserer Republik quasi voller Überraschung gesagt haben: Rechtsextreme sind weiter Antisemiten. Wie konnte das passieren!", sagt Simone Rafael von der Amadeu-Antonio-Stiftung der Deutschen Welle. Für sie sei "die gesellschaftliche Wahrnehmung über diese Bedrohung wirklich völlig fehlerhaft". Jüdinnen und Juden bekämen das dann zu spüren.
Die Zahl der antisemitischen Angriffe mit politischem Hintergrund steigt in Deutschland seit langem. Und sie war nie gering. So gab es 2003 Anschlagspläne von Rechtsextremen auf die Synagoge in München; 2010 traf ein Brandanschlag die Totenhalle des Neuen Jüdischen Friedhofs in Dresden, 2018 flogen Steine gegen ein jüdisches Restaurant in Chemnitz. Das waren die bekanntesten Fälle. Im Jahr 2011 gab es laut Bundeskriminalamt (BKA) 1691 Angriffe gegen Juden und jüdischen Einrichtungen, im Jahr 2018 dann 1799. "2019 werden wir eine erneute Steigerung haben", sagt BKA-Präsident Holger Münch beim Gemeindetag und rechnet mit einem Anstieg im niedrigen zweistelligen Prozentbereich. Nach seinen Erkenntnissen sind judenfeindliche Angriffe hochgradig – in 2018 zu weit über 80 Prozent - von der rechten Szene dominiert.
Was macht das mit den jüdischen Deutschen? "Jüdische Gemeinden fühlen sich in Deutschland zu Hause", sagte Schuster beim Gemeindetag. "Davon werden uns auch Waffen oder Bomben nicht abbringen. Wer nicht will, dass Juden in diesem Land leben, kann das Land ja verlassen." Sein Kurs ist klar.
"Die Koffer sind weiterhin ausgepackt"
Und doch kommt auch der 65-jährige Schuster, in Würzburg geboren und aufgewachsen, später auf das Bild des Koffers zu sprechen. Seit Gründung der Bundesrepublik hieß es mit Blick auf die damals in Deutschland lebenden Juden lange, diese säßen "auf gepackten Koffern". Das Bild gilt als überholt seit dem Aufblühen der über 100 jüdischen Gemeinden in Deutschland mit ihren gut 100.000 Mitgliedern, das dem jüdischen Zuzug aus Russland und Osteuropa nach 1990 folgte. Heute hat Deutschland eindrucksvolle neue Synagogen-Bauten oder jüdische Gemeindehäuser mit vielfältigen sozialen und kulturellen Angeboten. Das Wort galt als überholt, bis der Terror von Halle kam. "Die Koffer sind weiterhin ausgepackt", sagt Schuster. "Aber der ein oder andere guckt schon mal, wo er seinen Koffer hingestellt hat."
Nach dem Angriff in Halle reagierten auch die deutschen Innenminister. Das Entsetzen darüber, dass die Synagoge in Halle (einer Stadt mit rechtsextremem Milieu) an Jom Kippur keinerlei Polizeischutz hatte, soll Konsequenzen haben: Mehr Polizeischutz, Förderung für bauliche Sicherungsmaßnahmen. Beim Gemeindetag in einem großen Berliner Hotel standen übrigens nur wenige uniformierte Polizisten vor der Tür. Aber wenn man sich länger in dem Bau aufhielt, bemerkte man doch die vielen kleinen Zweier- oder Dreiergruppen unauffällig gekleideter junger Männer, die den Bau immer wieder umrundeten und das Umfeld beäugten.
Schutz ist das eine, konsequentes Handeln der Ermittler und der Justiz das andere. Er habe, sagt Zentralratspräsident Schuster der DW, ein bisschen das Gefühl, dass die Justiz "auf dem rechten Auge doch einen Sehfehler" habe. Er berichtet von Urteilen, bei denen "klassisch antisemitische Motive" hinter der Straftat steckten, und bei denen die Richter dann strafmildernde Gründe wie eine schwierige Kindheit geradezu suchten. "Da fehlt jede abschreckende Wirkung. Umso mehr bin ich dankbar für die Initiative des Bundesrats, aber auch der Justizministerin", so Schuster. Sein Dank gilt dem politischem Handeln nach Halle. Nun sollen im Strafrecht antisemitische Motive ausdrücklich als strafschärfend benannt werden.
Jeden einzelnen Fall zur Anzeige bringen
Bei der Frage der Strafverfolgung appellieren die Ermittler übrigens an Betroffene verstärkt, jeden einzelnen Fall zur Anzeige zu bringen. Auch das helfe, Dunkelziffern, Zusammenhänge und Entwicklungen auszuleuchten. "Unser Bild wird nur besser, wenn Sie Anzeige erstatten", so Münch. "Je mehr wir erfahren, desto mehr hilft es uns, den Kompass zu stellen." Derzeit, sagt der BKA-Präsident, liegt die Aufklärungsquote bei antisemitischen Taten bei 46 Prozent. Der typische Täter sei männlich und älter als 30 Jahre. Und nur bei etwa der Hälfte der Fälle seien die Täter "aus polizeilichen Vorerkenntnissen" bekannt.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, mahnte dieser Tage die politischen Parteien zu einem selbstkritischem Blick. "Es ist ein großes Problem, dass alle mit dem Finger nur auf andere zeigen, sich selbst dabei aber von jedem Verdacht freisprechen", sagte er der "Bild am Sonntag". Antisemitismus-Probleme gäbe es in allen deutschen Parteien. Diese Sorge war auch beim Gemeindetag zu spüren.
Josef Schuster nannte Nachrichten über kommunale Absprachen diverser Parteien mit der AfD oder auch die Frage einer CDU-Mitgliedschaft eines rechtsextremistisch aufgefallenen Mannes in Sachsen-Halle - also in dem Bundesland, zu dem Halle gehört - "verstörend". Und beim Gemeindetag war der erste Name, der bei einem Publikumsgespräch fiel, der des früheren Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen. "Der macht mir Angst", es reichten doch ein paar Leute wie er "in Schaltstellen", damit es richtig gefährlich werde, sagte ein Zuhörer über Maaßen. Andere pflichteten ihm bei, sprachen von "Feinden der Demokratie" in Behörden oder "rechtslastigen Teilen" im Apparat.
Auf Dialog setzen
Viele weitere Aufgaben stehen wohl an – gegen judenfeindlichen Hass und "enthemmte Kampagnen" im Netz, für mehr schulische Bildung, als Arbeit in Sportvereinen, beim Vorgehen gegen Rechtsextremismus in Fußballstadien, bei der Integration von Muslimen aus traditionell juden- und israelfeindlichen Ländern. "Wir brauchen insgesamt mehr Beratungsstellen und mehr Kompetenzen, die genau auf solche antisemitischen Angriffe reagieren können", meint Simone Rafael. "Es gibt allerdings bereits einige sehr gute Strukturen". Sie könne nur jedem Betroffenen empfehlen, sich an eine der bestehenden Meldestellen zu wenden und dort Hilfe zu suchen.
Für viele beim Gemeindetag war klar, und es mag überraschen: Sie wollen auf mehr Dialog setzen, ihre Einrichtungen weiter öffnen, junge Juden und Muslime zusammenbringen. Und als die viertägige Veranstaltung vorbei war und am Brandenburger Tor hunderte Juden den Auftakt von Chanukka, dem jüdischen Lichterfest feierten, stand Rabbiner Teichtal auf der Bühne und wandte sich gegen Antisemitismus. "Wir werden dem nicht nachgeben", sagte er unter Applaus. Juden, Christen und Muslime stünden zusammen, für Hass gebe es in der Gesellschaft keinen Platz. "Antisemitismus ist Gift, egal woher es kommt."
Und das erste Chanukka-Licht wurde entzündet. Rabbiner sangen, junge Juden und Kinder tanzten. Umgeben von Absperrgittern. Und gut hundert Meter weiter standen große Polizei-Fahrzeuge eng aneinandergeparkt wie ein grün-weißer Schutzwall. Jüdisches Leben in Deutschland im Jahr 2019.