Deutschland verfehlt Masern-Impfziel
28. August 2014Zur Mittagszeit in einer Kinderarztpraxis in Karlsruhe: In einer Ecke bereitet eine Krankenschwester gerade eine kombinierte Impfung vor, gegen Masern, Windpocken, Röteln und Mumps.
Vorsichtig legt sie Spritze und Nadel auf ein Tablett neben einige Wattetupfer. Dann nimmt sie das Impfserum aus dem Kühlschrank. Zweimal sollten alle Kinder damit geimpft werden; dann haben sie einen ausreichenden Schutz gegen Masern. "Auch alle meine Kinder sind gegen Masern geimpft", sagt Kinderarzt Dieter Knöbl, der hinter seinem Schreibtisch sitzt.
Seit seinem Studium hat Knöbl schon viele Kinder gesehen, die an Masern erkrankt waren und unter schweren Komplikationen der Krankheit zu leiden hatten. Daher rät er allen Eltern zu der Impfung.
Die schwerste Folge: ein grausamer Tod
Die Komplikationen reichen von Mittelohrentzündungen über Lungen- bis zu Hirnhautentzündungen. Letztere kann sogar anhaltende Hirnschädigungen hinterlassen oder zum Tode führen.
Eine seltene, aber immer tödlich endende Folge einer Maserninfektion nennt sich subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), bei dem das Virus langsam das zentrale Nervensystem angreift. "Das wirkt in etwa so, als ob die Kinder Alzheimer haben, obwohl sie noch ganz jung sind", sagt Knöbl. "Während die Krankheit fortschreitet, verfallen die infizierten Kinder körperlich und geistig. Sie können nicht mehr sprechen, sind gelähmt und am Ende liegen sie nur noch da und ringen um Luft. Es ist ein grausamer Tod."
Häufige Komplikationen
In seiner Zeit auf der Kinderstation eines Krankenhauses musste Knöbl miterleben, wie drei Kinder an SSPE verstarben und eines an Lungenentzündung. Aber auch so sind Masernkomplikationen häufiger, als viele denken: Von 300 Menschen, die 2013 in Berlin an einem Masernausbruch erkrankten, mussten über 100 ins Krankenhaus eingewiesen werden.
Etwa einer von tausend Masernerkrankten entwickelt eine Lungenentzündung; selbst in Industriestaaten stirbt etwa einer von 3000 Erkrankten. Die Sterblichkeitsrate in Entwicklungsländern ist noch viel höher. Kommen weitere Faktoren - etwa Unterernährung und damit ein geschwächtes Immunsystem - hinzu, kann sie sogar bis auf 30 Prozent ansteigen. Masern gelten als die ansteckendste Krankheit überhaupt. Doch trotz der Risiken gibt es noch immer viele Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen wollen.
Die Eltern überzeugen
Einige Kinderärzte weigern sich, junge Patienten aufzunehmen, die nicht den vollen Impfschutz haben, weil sie sagen, dass sie nur so ihre anderen Patienten schützen können. "Das ist nicht unsere Philosophie", sagt Knöbl. Er und seine Kollegen fürchten, dass die Eltern dann gezielt solche Ärzte aufsuchen, die ihre Impfskepsis teilen.
Kommen die Patienten indes weiterhin in seine Praxis, könnten die Eltern vielleicht eines Tages für die Impfung gewonnen werden, hofft Knöbl. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Eltern besonders große Angst vor Impfungen haben, wenn die Kinder noch ganz klein sind", sagt er, "aber wenn man ihre Ängste ernst nimmt und ihnen etwas mehr Zeit gibt, ändern sie doch ihre Meinung."
Hartnäckige Gerüchte
Einige Eltern beharren indes auf ihrer Impfablehnung und finden dafür auch immer wieder Argumente. So behauptete 1998 der britische Mediziner Andrew Wakefield, dass die kombinierte Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln Autismus auslösen würde. Obwohl die Wakefield-Studie seitdem widerlegt und zurückgezogen wurde und Wakefield sogar seine britische Zulassung entzogen wurde, bleiben Gerüchte über eine Verbindung zwischen der Impfung und Autismus am Leben.
Zudem haben viele Eltern Angst vor einer Hirnhautentzündung, die in der Tat als sehr seltene Nebenwirkung einer Impfung auftreten kann. Allerdings ist hier die Wahrscheinlichkeit mit eins zu einer Million noch immer viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, eine Hirnhautentzündung in Folge einer Masernerkrankung zu bekommen: Die Wahrscheinlichkeit für letzteres liegt bei eins zu tausend.
Zu diesen Ängsten kommt noch hinzu, dass die allgemeine Öffentlichkeit Medizinern und vor allem Pharmazieunternehmen misstraut - vor allem in den süddeutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern. Wieder andere Eltern vergessen ganz einfach, ihr Kind zur Auffrischungsimpfung zu bringen. Insgesamt kommt so eine signifikante Zahl von Kindern zusammen, die nicht geimpft sind.
Impfziele verfehlt
In Gesamtdeutschland beträgt die Impfrate 92 Prozent, in Baden-Württemberg nur 89 Prozent. Das liegt weit unter dem 95-Prozent-Ziel, das sich Deutschland und andere europäische Länder gesetzt haben, um die Krankheit bis zum Jahr 2015 auszurotten.
2013 brachte der damalige deutsche Gesundheitsminister Daniel Bahr die Idee auf, eine Masernimpfung gesetzlich vorzuschreiben.
Günter Pfaff, Epidemiologe am Landesgesundheitsamt in Baden Württemberg, glaubt nicht, dass solche Massnahmen in Deutschland zielführend wären. "Wir bräuchten vermutlich mehr Energie, um gegen den Widerstand gegen eine solche Pflichtimpfung anzukämpfen, als wir brauchen, um Menschen davon zu überzeugen, dass eine Impfung den Kindern nützt", sagt er.
Eine persönliche Herangehensweise
Masern in Deutschland zu bekämpfen, bedeutet für Pfaff, die verfügbaren Daten haargenau zu analysieren. "Es gibt ein paar Gemeinden, deren Impfrate sich stark von den benachbarten Gemeinden unterscheidet", sagt Pfaff. Das Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg nimmt jetzt Kontakt zu Ärzten auf, die in Dörfern und Städten mit niedriger Impfrate arbeiten. "Wir wollen die Ärzte fragen, ob sie schon bemerkt haben, dass die Impfrate in ihrer Stadt geringer ist als in der Nachbarstadt. Und woran das Ihrer Meinung nach liegt", erklärt Pfaff.
Eine andere Herangehensweise ist die, die Masernimpfraten für Dörfer und Bezirke und ihre Nachbarregionen in Gemeinden-Newslettern zu veröffentlichen. Solche lokalen Informationen bringen meist mehr Erfolg als öffentliche Informationskampagnen auf Landesebene und in landesweiten Medien.
Wie auch immer man vorgeht: Es ist möglich, die Masern auszurotten. Nord- und Südamerika haben das bereits im Jahr 2002 geschafft. Aber Deutschland, eines der am weitesten entwickelten Länder in Europa, ist noch weit davon entfernt.