Ein persönlicher Blick auf Deutschland und China
18. September 2019Es könnte verschiedener nicht sein - so kommt es mir manchmal vor, wenn ich China und Deutschland miteinander vergleiche. Beispielsweise beim Thema Privatsphäre und öffentliche Überwachung. Seit einem Jahr lebe ich in Shanghai, als Fellow der dortigen Niederlassung der New York University. Meine Eltern und ich sind jedoch in Singapur, einem tropischen Stadtstaat mit fünf Millionen Einwohnern, geboren und aufgewachsen. Als ich in Shanghai ankam, einer Stadt mit mehr als 24 Millionen Einwohnern, dauerte es eine Weile, bis ich mich an das chinesische Selbstverständnis gewöhnen konnte. Zumal ich zuvor als Studentin und DW-Praktikantin einige Zeit in Deutschland gewohnt und dort etwas Gänzlich anderes erlebt hatte.
Bitte Abstand halten
In Shanghai leben etwa sieben Mal so viele Menschen wie in Berlin. Jede noch so kleine Ecke wird genutzt. Die Stadt ist ein Moloch und der Verkehr macht Angst. Da China die Staatsfeiertage und Ferien synchronisiert, damit alle nach demselben Kalender und derselben Zeitzone arbeiten, bewegt sich die Masse an Menschen auch noch im gleichen Takt.
In U-Bahn-Stationen sollen Barrieren helfen, den Ansturm zu steuern, sie ähneln denen von Rinderfarmen. Weil so viele Menschen gleichzeitig unterwegs sind, ist es schlichtweg unmöglich, räumliche Distanz zueinander zu wahren. Ganz anders war das damals in Freiburg in Deutschland, wo ich zu Beginn an einer Orientierungsveranstaltung für Austauschstudenten teilnahm. Dabei ging es um die Vermittlung der "deutschen Etikette im öffentlichen Raum". Der Kurs sollte uns also die ungeschriebenen Gesetze der Höflichkeit beibringen. Eines besagte, in der Öffentlichkeit stets darauf zu achten, eine Armlänge Abstand zu anderen Menschen zu halten.
In China dagegen kann die Lücke, die durch diesen Abstand zwischen zwei Menschen entsteht, von einer dritten Person als Einladung verstanden werden, sie zu schließen. Besonders während der Hauptverkehrszeit ist der direkte Hautkontakt in der U-Bahn unumgänglich. Während ich mich in Deutschland sofort dafür entschuldige, wenn ich jemandem versehentlich auf die Zehen getreten bin, gibt es in einer solchen Situation in China keine Reaktion. Sie wird nicht einmal erwartet.
Oberirdisch müssen sich Fußgänger die Wege in Shanghai mit E-Scooter-Fahrern teilen, die eilig Essensbestellungen ausliefern. Die Zusteller drängeln sich mit ihren lautlosen Fahrzeugen rücksichtslos an den Fußgängern vorbei. Ordnungsliebende Deutsche schütteln in einer solchen Situation wahrscheinlich missbilligend den Kopf. Im deutschen Alltag konzentriere ich mich dagegen darauf, keinem anderen Menschen zu nahe zu kommen.
Deutsche finden Überwachung "krass"
Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen China und Deutschland ist der Umgang mit Überwachungskameras. Als meine deutschen Freunde hörten, dass selbst Shanghais Parks - an sich Orte zum Abschalten und Entspannen - stark überwacht werden, fanden sie das "überraschend" und "unglaublich". Darüber hinaus soll das Überwachungssystem in China bis 2020 auf 570 Millionen Kameras ausgebaut werden.
Die Gesamtzahl der aktiven Überwachungskameras in Deutschland ist unbekannt, sie werden in der Regel an belebten Orten installiert. Laut eines Berichts der deutschen Tageszeitung "Die Welt" hatte Berlin 2017 um die 14.700 Kameras, während Bremen mit nur 109 Kameras die am wenigsten überwachte Stadt war. An Bahnhöfen waren der Tageszeitung zufolge 64.000 Kameras installiert.
Falsch geparkt?
Um das Überwachungsnetz zu optimieren, baut die chinesische Regierung derzeit das Sozialkreditsystem aus: Durch die Beobachtung des Verhaltens der Bürger im öffentlichen Raum verteilt die Regierung Kreditpunkte. Sie bewertet Zahlungsmoral, Einkaufsgewohnheiten, wer falsch parkt oder bei Rot über die Ampel geht und natürlich die Treue zur Partei. Verteilt werden "Highscores" (Höchstpunktzahlen) und "Lowscores" (Niedrigpunktzahlen). Wer sich nicht folgsam verhält, wird mit Reiseverboten bestraft oder erhält keinen Bankkredit. Menschen mit einer hohen Anzahl an Kreditpunkten werden ermutigt, mit anderen Highscorern befreundet zu sein, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen.
Die chinesische Regierung nutzt die riesigen Datensätze, die Unternehmen wie Alibaba, Ctrip, Huawei und Tencent von ihren Kunden einsammeln, etwa über die Nutzung ihrer Smartphones. Ob die persönlichen Vorlieben beim Essen oder die Aktivitäten in Freizeit oder Ferien - die Datensätze sind eine Goldmine, um Verhaltensmuster anzulegen. Die Chinesen sind daher motiviert, ihre Rechnungen pünktlich zu bezahlen und sich an die Gesetze zu halten.
Privatsphäre gegen Sicherheit
Anders ist das in Deutschland: Hier hat jedes der 16 Bundesländer eine eigene Datenschutzbehörde, und in Artikel 10 des Grundgesetzes heißt es: "Das Brief- sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich." Doch viele Chinesen, die ich kenne, legen darauf keinen Wert. Sie sind bereit ihre Privatsphäre gegen das Versprechen der Regierung einzutauschen, für Sicherheit und Komfort zu sorgen. In Deutschland und dem Westen generell hingegen gilt George Orwells Satz "Big Brother is watching you" als Synonym für den Überwachungsstaat. Was dort als überaus negativ und gefährlich empfunden wird, vermittelt vielen Chinesen eine Art Schutzgefühl.
Für mich als Expat in China ist die Überwachung unvermeidlich, ich muss mich damit arrangieren - ebenso wie mit der schlechten Luftqualität. Immerhin: Wenn es um meine eigene Sicherheit geht, dann sind für mich persönlich Überwachungskameras ein mögliches Werkzeug. Denn immerhin können potentielle Täter damit schneller gefasst werden. Andererseits sollte es nicht soweit gehen, dass der Wert meiner Existenz daran bemessen wird, wo oder was ich esse und wie ich mich bewege. Und schon gar nicht von einem Staat, der für die Beurteilung seine obskuren moralischen Standards zugrunde legt. Auch wenn das vielleicht Effizienz steigernd ist - es gibt persönliche Angelegenheiten, die den Staat schlichtweg nichts angehen.
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