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Deutschland kämpft mit der Schuldenbremse

23. November 2023

Notlage erklären, neue Kredite aufnehmen oder sparen, bis es (absehbar) kracht? Es hat auch international Folgen, wie sich die Regierung in Berlin entscheidet.

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Bundesfinanzminister Christian Lindner verlässt nach einem Statement zum Nachtragshaushalt 2023 ein Stehpult, das im Bundesfinanzministerium vor einer blauen Wand steht. Im Hintergrund ist eine Deutschlandfahne an einem Ständer zu sehen
Sorgenvoller Blick: Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP)Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Die Vorgaben sind eindeutig: In Deutschland muss der Staat mit dem Geld auskommen, das er einnimmt. So steht es im Grundgesetz. Schuldenbremse nennt sich das. Nur in besonderen Notlagen darf die Schuldenbremse ausgesetzt werden und der Staat neue Schulden machen. Von 2014 bis 2019 konnte der Bund diese Auflagen erfüllen, die Haushalte waren immer ausgeglichen.

Doch dann kamen die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Der Bundestag setzte mehrfach die Schuldenbremse aus und die Regierung konnte milliardenschwere Kredite aufnehmen. Bundesfinanzminister Christian Lindner wollte damit eigentlich Schluss machen und den Haushalt konsolidieren. Nun sieht er sich gezwungen, auch für 2023 rückwirkend die Schuldenbremse aussetzen zu lassen.

60 Milliarden Euro fehlen - mindestens

Die bisherige Finanzplanung der Bundesregierung gilt nicht mehr, seit das Bundesverfassungsgericht die Finanzierung des Klima- und Transformationsfonds (KTF) für verfassungswidrig erklärt hat. Der Fonds ist ein Sondervermögen, in das SPD, Grüne und FDP nach ihrem Amtsantritt 2021 Kreditermächtigungen über 60 Milliarden Euro transferiert hatten, die noch aus der Corona-Pandemie stammten und nicht gebraucht worden waren.

Das Foto zeigt Bundeskanzlerin Angela Merkel im November 2020, wie sie mit ihrem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Bundestag spricht. Merkel steht vor Spahn, trägt eine Maske, hat die linke Hand erhoben und zeigt nach oben.
Als die Corona-Pandemie ausbrach, war Angela Merkel (CDU) noch BundeskanzlerinBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Notfallkredite für die Zukunft auf die Seite legen und sie anders verwenden, als der Bundestag das beschlossen hat, das geht nicht, sagen die Richter. Die Ampel-Regierung hat das kalt erwischt. Es herrscht Ratlosigkeit, wie mit dem Urteil umgegangen werden soll. Zumal der KTF nicht das einzige Sondervermögen ist. Es gibt ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für die Bundeswehr, das allerdings im Grundgesetz verankert wurde und somit wohl nicht betroffen ist.

Anders sieht das mit dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) aus. Über diesen bis zu 200 Milliarden Euro schweren Krisenfonds werden insbesondere die Energiepreisbremsen finanziert. Er wurde 2022 eingesetzt, ein großer Teil der Gelder wurde für 2023 und 2024 verplant.

Koalition in der Schockstarre

Finanzminister und FDP-Chef Lindner hat nun vorsorglich eine Haushaltssperre verhängt. Vor weiteren Beratungen über den Haushalt 2024 wolle er "reinen Tisch" machen und insbesondere die bereits ausgezahlten Strom- und Gaspreisbremsen über einen Nachtragshaushalt absichern, sagte er.

Doch was passiert dann? SPD, Grüne und FDP wirken ratlos. Das liegt auch daran, dass die drei Parteien so grundverschieden sind. Es ist ein Bündnis aus zwei linken und einer wirtschaftsliberalen Partei. Die FDP besteht seit Regierungsbeginn darauf, den Haushalt zu sanieren und die Schuldenbremse so schnell wie möglich wieder einzuhalten. SPD und Grüne bestehen auf ihren klima- und sozialpolitischen Vorhaben, die viel Geld kosten.

Klimaschutz, Soziales, Schuldenbremse

Muss nun auf Milliardenausgaben für die Entwicklung einer CO2-neutralen Wirtschaft und den Klimaschutz verzichtet werden? Das würden die Grünen nicht mittragen. Die SPD würde hingegen streiken, wenn massive Kürzungen bei den Sozialausgaben, beim Bürgergeld, bei der Rente ins Spiel kämen. Steuererhöhungen für Reiche oder ein erneutes Aussetzen der Schuldenbremse lehnt hingegen die FDP ab.

Christian Lindner (r-l, FDP), Bundesminister der Finanzen, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, verlassen ein Pressestatement nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt 2021
Kalt erwischt: Bundeskanzler Olaf Scholz (Mitte) und seine Minister Robert Habeck (links) und Christian Lindner nach dem Urteil des BundesverfassungsgerichtsBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

In der SPD und bei den Grünen gibt es viele, denen die Schuldenbremse grundsätzlich ein Dorn im Auge ist. SPD-Chefin Saskia Esken fordert eine Lockerung, der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagte auf dem Grünen-Parteitag in Karlsruhe: "Mit der Schuldenbremse, so wie sie ist, haben wir uns freiwillig die Hände auf den Rücken gefesselt und ziehen in einen Boxkampf."

Rückendeckung gibt es angesichts der miserablen Konjunkturdaten in Deutschland nun auch von Wirtschaftswissenschaftlern: Man müsse sich fragen, ob Deutschland mit einer rigiden Sparpolitik weltweit noch mithalten kann.

Miserable Wachstumsaussichten

Ist Deutschland erneut der kranke Mann Europas? Wer die Fakten ins Auge fasst, kommt an der Annahme nicht vorbei. Während in vielen Ländern der Welt die Wirtschaft wächst, kommt Deutschland nicht auf die Beine, ist 2023 sogar in eine Rezession gerutscht. Seit der Corona-Pandemie weist die deutsche Volkswirtschaft das geringste Wirtschaftswachstum im Euro-Raum auf - eine schnelle Änderung ist nicht abzusehen.

Das Foto zeigt eine Stromrechnung aus dem Jahr 2022, auf der Stromtarif Klassik steht. Daneben liegen Kontoauszüge.
Die Stromkosten sind seit 2022 stark angestiegenBild: Udo Herrmann/Chromorange/picture alliance

Die Wirtschaft stöhnt unter den hohen Energiekosten, unter Fach- und Arbeitskräftemangel. Verkehrswege, also Bahngleise, Straßen und Brücken sind genauso marode wie öffentliche Gebäude, allen voran Schulen und Universitäten. Die digitale Infrastruktur lässt zu wünschen übrig, der Umstieg auf erneuerbare Energien und Elektrifizierung läuft viel zu langsam.

Klotzen in der Krise

Andere Länder verschulden sich, um ihre Volkswirtschaften zu stützen und zu modernisieren. Bestes Beispiel sind die USA. Die Regierung von Präsident Joe Biden hat mit ihrem "Inflation Reduction Act" ein fast 740 Milliarden Dollar schweres Investitionsprogramm aufgelegt. Neben Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und einer Neuausrichtung der US-amerikanischen Wirtschaft auf erneuerbare Energien sieht das Programm auch umfassende steuerliche Neuregelungen vor.

Wie es mit Deutschland weitergeht, ist auch international von Interesse. Wenn die größte europäische Volkswirtschaft weniger investieren und weniger ausgeben kann, dann spüren das zunächst die europäischen Nachbarstaaten und in der Folge auch der Rest der Welt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnen bereits vor den Folgen der deutschen Haushaltskrise.

Schuldenbremse reformieren

"Um Wachstum sicherzustellen, muss Deutschland in seine Infrastruktur, den grünen Umbau der Wirtschaft sowie in die Fähigkeiten seiner Bevölkerung investieren", sagte die Chefin des IWF, Kristalina Georgiewa, in einem Zeitungsinterview. "Und wir sprechen hier nicht über triviale Investitionen." Die OECD spricht sich dezidiert für eine Reform der Schuldenbremse aus und verweist dabei nicht nur auf den massiven Investitionsbedarf und die schlechten Konjunkturdaten, sondern auch den anhaltenden Krieg in der Ukraine, die Zeitenwende in der Verteidigungspolitik sowie die geopolitischen Spannungen mit ihren Auswirkungen auf die Lieferketten und Absatzmärkte deutscher Unternehmen.

Lindners Notbremse: Finanzminister verhängt Haushaltssperre

Auch andere Wirtschaftswissenschaftler mahnen, dass die Schuldenbremse Investitionen in die Zukunftsfähigkeit Deutschlands nicht im Weg stehen dürfe. Doch eine Reform der Regel ist nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament möglich, und die gibt es derzeit nicht.

Die Unionsparteien CDU und CSU bremsen

CDU und CSU, die in der Opposition sind, schließen Änderungen aus. Die Schuldenbremse sei essenziell für eine generationengerechte Haushaltsführung. Fraktionschef Friedrich Merz, der auch CDU-Vorsitzender ist, schlägt stattdessen vor, bei den Sozialausgaben zu kürzen und das von den Grünen forcierte Heizungsgesetz zu verschieben, das den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen beschleunigen soll. Das sind politische Positionen, die mit denen der FDP übereinstimmen. Union und FDP haben im Parlament aber keine Mehrheit.

Eigentlich wollte der Bundestag am 1. Dezember den Haushalt 2024 beschließen. Nun wird das Parlament in der Haushaltswoche wohl mit der Regierung darüber debattieren und streiten, wie es finanziell für Deutschland weitergehen soll.

Der Artikel wurde am 23. November erstmals publiziert und am 24. November aktualisiert.