Deutschland im Fadenkreuz der IS?
24. September 2014Eine graue Wolkenfront zieht über den Bundestag, als Hans-Georg Maaßen (siehe Bild oben) mit ernstem Blick einen verwackelten, etwas unscharfen Video-Clip für die Abgeordneten und ihre wissenschaftlichen Mitarbeitern abspielen lässt: Auf dem staubigen Boden liegen Leichen. Ein paar Männer, Kämpfer der Terrororganisation, die sich "Islamischer Staat" (IS) nennt, steigen über die Blutlachen, verhöhnen die Toten, lachen. Auf einem zweiten Clip strahlen zwei junge Männer in die Kamera: Jedes Mal, wenn er in die Schlacht ziehe, prahlt einer, dann hoffe er, jemanden zu finden, "den wir schlachten können."
Die Männer in den beiden Videos sprechen Deutsch: 400 Dschihadisten aus Deutschland sollen bereits nach Syrien und in den Irak gereist sein, um sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen - Tendenz steigend, erklärt Maaßen. In den kommenden Tagen, so der Präsident des Verfassungsschutzes, werde sein Amt diese Zahl nach oben korrigieren. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat zum Fachgespräch "Sicherheitsrisiko Dschihadisten" eingeladen - und die geladenen Experten sind sich einig, dass diese eine reelle Gefahr für Deutschland darstellen: Mindestens 125 deutsche Dschihadisten sind laut Maaßen bereits nach Deutschland zurückgekehrt. 25 von ihnen sind "nachweislich in Kampfhandlungen verwickelt gewesen".
Vermutlich ist die Zahl aber viel höher: "Vielfach wissen wir einfach nicht, was die Leute in Syrien und im Irak tun", so Maaßen. Nicht alle Dschihadisten prahlen in den sozialen Netzwerken mit dem, was sie getan haben. Viele würden oft einfach vom Radar verschwinden - und dann irgendwann wieder nach Deutschland kommen.
Anschläge auch in Deutschland möglich?
Das bereitet den Sicherheitskräften große Sorgen: Sie fürchten, dass Rückkehrer vielleicht bald auch in Deutschland Anschläge verüben könnten. Maaßen zeigt ein Bild, auf dem von einer schwarzen Deutschlandkarte rotes Blut tropft: Es ist ein Aufruf zum Dschihad gegen Deutschland, erklärt der Chef des Verfassungsschutzes. Und fügt hinzu: "Wir sind durchaus auch im Fadenkreuz der IS". Ob der Anführer der IS, der selbsternannte Kalif, der sich den Namen Abu Bakr al-Baghdadi gegeben hat, tatsächlich Europa angreifen wolle, kann auch Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik nicht eindeutig sagen. Doch er vermutet, dass Baghdadi derzeit keine Ressourcen von seinem Kampf in Syrien und im Irak abziehen werde. Dennoch geht Steinberg geht davon aus, "dass er die Gelegenheit nutzen wird, die ihm die Kämpfer und Strukturen in Europa bieten."
Denn in Europa, da sind sich Maaßen und Steinberg einig, gibt es etliche Menschen aus dem salafistischen Milieu, die die Ziele und Ideologie der IS-Kämpfer unterstützen, ihr zumindest wohl gesonnen sind. Als der "Islamische Staat" ausgerufen wurde, habe es unter den etwa 6200 Salafisten in Deutschland eine "große Euphorie" gegeben, sagt Maaßen: Das Kalifat, das der IS mit aller Gewalt in weiten Teilen des Nahen Osten errichten möchte, sei für viele Extremisten eine Verwirklichung ihrer Träume.
"Sie können sicherlich in Europa Anschläge ausführen"
Je stärker der Westen in Syrien und im Irak involviert ist, desto mehr wächst auch die Gefahr, dass Rückkehrer mit Anschlagsplänen zurückkehren, glaubt Maaßen. Steinberg ergänzt: Das Motiv für Vergeltungsanschläge im Westen lieferten die amerikanischen Luftangriffe auf die Stützpunkte des "Islamischen Staates" im Irak und Syrien.
Eine einfach Lösung, das betonen Maaßen und Steinberg immer wieder, gibt es nicht: Der "Islamische Staat" verfügt über beachtliche Summen aus der Ölförderung in besetzten Gebieten. Hinzu kommen laut Maaßen Steuereinnahmen und Spenden von IS-Anhängern. Steinberg ist überzeugt, dass nur Bodentruppen die IS-Kämpfer aus den großen Städten in Syrien und im Irak vertreiben können. Doch die Pläne, irakische Truppen auszubilden, sind nach Einschätzungen von Steinberg unzureichend. Und für Syrien, das als Rückzugsgebiet für den IS dient, gebe es überhaupt keine Strategie, weder von Europa, noch von den USA.
Auch verhindere die Türkei, dass Kämpfer und humanitäre Hilfe über die türkische Grenze nach Syrien gelangen, um dem syrischen Arm der PKK im Kampf gegen den "Islamischen Staat" beizustehen. Zu groß sei die Angst der türkischen Behörden vor einem Erstarken der kurdischen Miliz, die Anfang der 1980er Jahren einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat lancierte. Deutschland müsse die Türkei zu einer Friedenslösung mit der PKK drängen, fordert Steinberg deshalb.
Solange der "Islamische Staat" aber nicht besiegt ist, werden sich wohl weiterhin deutsche Dschihadisten dem Kampf anschließen. In ein paar Fällen haben die Behörden die Ausreise von potenziellen Dschihadisten verhindern können. Doch die Radikalisierung von jungen Menschen kann sich sehr schnell, manchmal innerhalb von wenigen Monaten, sogar Wochen, vollziehen, oft im Stillen, vor dem Computer zu Hause: Nicht jeder Möchtegern-Dschihadist fällt dem Verfassungsschutz oder dem Moscheeverein auf. Die deutschen Sicherheitskräfte seien sehr bemüht, Deutschland sicher zu halten, versichert Maaßen. "Wir tun alles, was in unserer Macht steht." Aber wirklich garantieren könnten sie die Sicherheit einfach nicht. Wie auch? "Wir können die Rückkehrer nicht rund um die Uhr beobachten." Ein Hausbesuch in der Woche, eine "lockere Observation", zu mehr fehle den Sicherheitskräften einfach das Geld.