Deutschland schiebt weiter nach Kabul ab
13. Juli 2021"Diejenigen, die kein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen, sollen unser Land wieder verlassen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Die Entscheidung zur Abschiebung falle weiterhin "auf der Basis einer immer wieder aktualisierten, sehr genauen Beobachtung der Lage" in den Herkunftsländern, sagte er. Das Auswärtige Amt kündigte noch für diesen Monat einen neuen Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan an. Auf dieser Grundlage werde dann in der Abschiebungsfrage entschieden, "wie es weitergeht", sagte Seibert.
Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums kündigte an, in der Frage der Abschiebungen "sehr zeitnah das Gespräch mit der afghanischen Regierung" zu suchen. Zunächst werde sich die Bundesregierung aber mit den europäischen Partnern über die Bitte aus Kabul austauschen. Diese werde geprüft.
Auch Union will kein Moratorium
Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, weist den Wunsch der afghanischen Regierung nach einem befristeten Abschiebestopp ebenfalls zurück. "Ehrlicherweise kann ich diese konkrete Forderung nach einem Abschiebestopp nicht nachvollziehen, da es sich nur um sehr wenige Personen handelt", sagte Frei dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Seit 2016 seien nur etwas mehr als 1000 Personen nach Afghanistan abgeschoben worden. "Ich wüsste nicht, wie ein Stopp helfen könnte, die angespannte Sicherheitslage zu entspannen."
Auch in schwieriger Zeit sei es notwendig, dass die afghanische Regierung weiter bei den wenigen Abschiebeflügen kooperiere, so der CDU-Politiker. Am Mittwoch voriger Woche war ein Flugzeug mit 27 abgeschobenen Männern in Kabul eingetroffen. Die meisten von ihnen waren in Deutschland mit Straftaten aufgefallen. Angesichts der aktuell unsicheren Lage in Afghanistan habe er natürlich Verständnis dafür, dass Deutschland um weitere Unterstützung gebeten wird, versicherte Frei. Bei Sicherheits- und Entwicklungsfragen werde es diese auch weiter geben.
Finnland schiebt nicht mehr ab
Dagegen setzte Finnland angesichts der angespannten Sicherheitslage in Afghanistan die Abschiebungen in das Krisenland vorerst aus. Die Einwanderungsbehörde teilte mit, bereits seit Freitag sei für afghanische Staatsbürger die "Ausstellung negativer Bescheide" unbefristet suspendiert. Dies bedeute aber nicht, dass die Betroffenen automatisch eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekämen. Die Entscheidungen über die Anträge würden nur verschoben. Nach Angaben der Behörde werden mehr als 70 Prozent der Asylanträge von Afghanen in Finnland akzeptiert.
Angesichts der instabilen Situation hatte die Regierung in Kabul am Sonntag europäische Staaten zu einer Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan für drei Monate aufgerufen. Die von den Taliban ausgehende Gewalt und die dritte Corona-Welle hätten "wirtschaftliche und soziale Unruhen" ausgelöst, erklärte am Sonntag das Flüchtlingsministerium in Kabul. Dass derzeit Abschiebeflüge aus Europa in Afghanistan landeten, sei besorgniserregend. Außerdem sei man besorgt über eine wachsende Zahl von Menschen, die im Ausland Asyl suchten sowie im Land selbst auf der Flucht seien.
Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan Anfang Mai hat sich die Sicherheitslage erheblich zugespitzt. Die militant-islamistischen Talibansind in mehrere Provinzhauptstädte eingedrungen. Die Islamisten stoßen dabei teilweise kaum noch auf Gegenwehr. In mehreren Provinzen stehen nun Milizen den strauchelnden Sicherheitskräften zur Seite. Beobachter fürchten, das Land könnte in einen weiteren Bürgerkrieg abdriften.
"Keine Kämpfe in Städten"
Die Taliban erklären unterdessen, sie wollten keine Kämpfe in die Städte hineintragen. Die Gefechte hätten sich von den "Bergen und Wüsten" an die "Türen der Städte" fortbewegt, doch wollten die Taliban "keine Kämpfe innerhalb der Stadt", erklärte der Taliban-Kommandeur Amir Chan Muttaki auf Twitter.
Nach eigenen Angaben kontrollieren die Taliban inzwischen 85 Prozent des Landes. Diese Darstellung kann nicht unabhängig überprüft werden und wird von der Regierung in Kabul bestritten. Die Armee konzentriert sich mittlerweile darauf, die größeren Städte, wichtige Straßen und Grenzposten gegen den Vormarsch der Radikalislamisten zu sichern.
Welche Rolle spielt die Türkei?
Als Teil dieser Anstrengungen wurde am Sonntag ein Luftabwehrsystem am Flughafen von Kabul installiert. Es soll die Hauptstadt vor Raketenangriffen schützen. Das Militär teilte mit, das System sei von "ausländischen Freunden" geliefert worden, die es zunächst auch betreiben würden.
Die Türkei hatte unlängst angekündigt, nach dem Abzug der US-Soldaten Sicherheitsinfrastruktur für den Kabuler Flughafen bereitzustellen. Am Freitag sagte Staatschef Recep Tayyip Erdogan, Ankara und Washington hätten sich auf den Umfang der türkischen Sicherung des Flughafens geeinigt. Die Taliban warnten die Türkei am Dienstag jedoch davor, ihre Truppenpräsenz in Afghanistan auszuweiten. Dies sei "verwerflich" und verstoße gegen die "Souveränität und territoriale Integrität" Afghanistans.
Immer mehr Flüchtlinge
Derweil steigt die Zahl der aus Afghanistan Flüchtenden wieder an. Gebildete versuchten, über Stipendien oder durch Investitionen in Nachbarländer oder in die Türkei zu gelangen, sagt Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Viele weitere versuchten, sich in den Iran durchzuschlagen. Teilweise machten sich wieder ganze Fahrzeugkonvois auf den Weg, zum Teil sogar mit Fahrzeugen von Armee und Polizei.
Auch die Migration aus Afghanistan über den Iran in die Türkei nimmt Beobachtern zufolge stark zu. Die türkische Provinz Van, die an den Iran grenzt, sei voll von Migranten aus Afghanistan, sagt der Chef des Menschenrechtsverein IHD in der Provinz, Mehmet Karatas, der Deutschen Presse-Agentur. Medienberichte, wonach geschätzt mehr als 1000 Migranten täglich die Grenze passieren, könne er bestätigen.
Zu den Fluchtgründen sagt Ruttig, die afghanischen Migranten seien Kriegsflüchtlinge, auch wenn einige bei Befragungen durch Behörden angäben, ein "besseres Leben" zu wollen. Dass dies in Afghanistan nicht möglich sei, sei eine Folge der seit mehr als 40 Jahre dauernden kriegerischen Auseinandersetzungen.
kle/ehl (afp, dpa, rtr)