Deutsche Forscher retten Timbuktu-Manuskripte
16. Juni 2014Eva Brozowsky pendelt derzeit ständig zwischen Deutschland und Malis Hauptstadt Bamako. Die 34-jährige Deutsche ist Restauratorin und Papierspezialistin. Sie gehört zum Team der deutschen Wissenschaftler, das die jahrhundertealten Manuskripte aus den großen Bibliotheken im nordmalischen Timbuktu restauriert - und damit vor dem Verfall retten soll. Die Handschriften sind die wichtigste Sammlung schriftlicher Zeugnisse in Westafrika und gehören seit 1988 zum Weltkulturerbe. Die Stadt Timbuktu, rund 1000 Kilometer nördlich von Bamako gelegen, war im Mittelalter ein geistiges Zentrum des Islam. Die bis zu 1200 Jahre alten Schriften widmen sich der Alchemie, Astrologie oder Medizin, deuten den Koran oder erklären Geschichtliches.
Ein unfassbarer kultureller Schatz, den man mit dem Bestand sämtlicher Bibliotheken in Deutschland vergleichen müsse, schwärmt Brozowsky. Geplant ist, die zwischen 280.000 und 500.000 Schriften aus Timbuktu in einem Archivgebäude in Bamako fachgerecht unterzubringen, zu katalogisieren und zu digitalisieren. So sollen sie langfristig der malischen und der internationalen Forschung zugänglich gemacht werden. "Leider ist fast die Hälfte der Manuskripte so instabil und fragil, dass sie stabilisiert werden müssen, damit sie erhalten bleiben und überhaupt digitalisierbar sind", so Brozowsky.
Wegen des trockenen Wüstenklimas in Timbuktu ist bei vielen Schriften das Papier brüchig geworden, bei anderen haben sich Termiten oder andere Insekten durch die Blätter gefressen. Selbst die Tinte, mit der sie verfasst sind, hat wegen der enthaltenen Säure Schaden angerichtet. Was einmal weggefressen sei, könne nicht wieder hergestellt werden, warnt die Expertin und appelliert an die Weltöffentlichkeit, sich dafür einzusetzen, dass genug Geld zur Rettung der Manuskripte zur Verfügung steht: "Für die Manuskripte ist es jetzt wirklich sehr eilig. Nichts ist so gefährdet wie ein vergessener Schatz."
Ein Großteil ist komplett unerforscht
Unterstützt wird das Projekt vom Auswärtigen Amt, internationalen Geldgebern und der deutschen Gerda-Henkel-Stiftung. Bislang hat die Stiftung aus Düsseldorf rund 500.000 Euro zur Rettung der jahrhundertealten Schriften bereitgestellt. Historische Islamwissenschaften zählen zu ihrer Kernförderung, sagt Michael Hanssler, Vorstandsvorsitzender der Stiftung. "Besonders spannend für uns ist, dass die Manuskripte erst zu zwei bis drei Prozent ausgewertet sind und der weit überwiegende Teil noch völlig unerforscht ist."
Wie Hanssler gerät auch Westafrika-Forscher Dmitry Bondarev vom Sonderforschungsbereich "Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa" der Universität Hamburg ins Schwärmen. "Diese Manuskripte sind ein wahrer Schatz, wenn wir die Vergangenheit besser verstehen wollen!" Bondarev leitet das Projekt zur Rettung der Timbuktu-Schriften: "Sie werden uns viele bislang unbekannte Seiten öffnen. Im Vergleich zu dem, was wir bislang zum Beispiel aus Fachpublikationen wissen, haben sie ein riesiges Potenzial, die Geschichte von Afrika besser verständlich zu machen."
Denn in Timbuktu hatten sich im Mittelalter Forscher aus allen Ecken Afrikas und Übersee getroffen, recherchiert und geschrieben. Der Ort lag entlang der wichtigsten Handelsrouten durch die Sahara und war Anlaufstelle für Reisende. Timbuktu blieb über viele Jahrhunderte wichtiger Anzugspunkt, sodass Wissen aus diversen Sparten und Regionen zusammengetragen und bewahrt wurde. "Die Fachwelt ist sich einig, dass die Lektüre und das Publizieren dieser Schriften sogar dazu führen könnte, dass die afrikanische Geschichte in Teilen neu geschrieben werden muss", so Bondarev.
Rettung unter Lebensgefahr
Auch die neuere Geschichte des Islam und das Vorgehen islamistischer Gruppierungen in Nordmali könnte mit Hilfe der Manuskripte besser interpretiert werden, betont Bondarev. Fast wären diese jedoch radikalen islamischen Kämpfern zum Opfer gefallen: Nach einem Militärputsch im Jahr 2012 hatten Islamisten den gesamten Norden Malis unter ihre Kontrolle gebracht, darunter die Städte Timbuktu und Gao, und begonnen, das Weltkulturerbe zu zerstören. Sie hatten verstanden, welchen Wert es für die westliche Welt hat, und wollten mit ihrer Zerstörung ein Zeichen setzen.
Dass die Manuskripte überhaupt in Bamako sind und restauriert werden können, ist daher dem Engagement von Abdel Kader Haïdara und vielen Freiwilligen zu verdanken -sie haben dafür ihr Leben riskiert. Haïdara ist Direktor der Mamma-Haïdara-Gedächtnis-Bibliothek, eine der größten Bibliotheken in Timbuktu, und Vorsitzender eines Verbandes, der das handschriftliche Erbe der Stadt bewahren will. Er erinnert sich: "Diese Aktion war sehr, sehr schwierig und vor allem hochgefährlich!" Sechs Monate haben die heimlichen Transporte von Timbuktu nach Bamako in Autos und Lastwagen gedauert. Haïdara ist froh, dass nun endlich etwas geschieht, um die wertvollen Schriften vor dem Verfall zu retten: "Es ist höchste Zeit, dass die Manuskripte restauriert werden. Die Digitalisierung wird uns ermöglichen, eine digitale Kopie zu bewahren, und sie erleichtert den Zugang zu den Schriften, um sie auszuwerten."
Doch es ist noch viel zu tun. Restauratorin Eva Brozowsky schult Mitarbeiter des Projektes: Manche werden zu Basis-Papier-Restauratoren ausgebildet, andere übernehmen etwa die Reinigung oder stellen schützende Boxen her. Zudem baut Brozowsky eine Werkstatt auf. Es geht zwar voran - aber in kleinen Schritten. "Wenn das einer allein machen würde, hätte er Arbeit für mehrere Jahrhunderte", so Brozowsky. "Je mehr Menschen mitarbeiten können und je größer die Finanzierung ist, desto schneller geht es natürlich. Aber wahrscheinlich muss man schon mit einem oder mehreren Jahrzehnten rechnen."Bleibt zu hoffen, dass bis dahin den Geldgebern nicht die Luft ausgeht.