Deutsche Asylpolitik: Erst hui, dann pfui?
23. Juni 2017"Wir schaffen das." - Kein anderer Satz aus dem Mund Angela Merkels hat so viele innenpolitische Kontroversen ausgelöst, wie das Bekenntnis der Bundeskanzlerin, dass Deutschland die Herausforderungen der Flüchtlingskrise meistern könne und werde. Die einen lobten sie dafür überschwänglich, die anderen kritisierten sie lautstark. Eine kleine, aggressive Minderheit von Rechtsextremen überschüttete sie gar mit Hasskommentaren und verbalen Wutausbrüchen.
International avancierte Merkel mit diesem Satz zur geachteten Flüchtlingskanzlerin, die Deutschlands gestiegene weltpolitische Bedeutung in eine offene Asylpolitik ummünzte. Lob kam von Papst Franziskus ebenso wie von Barack Obama.
Zahlreiche Bilder aus dem Sommer 2015 untermauerten die neue, deutsche "Willkommenskultur": Da waren ehrenamtliche Helfer, die bis zur Erschöpfung Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Kleidung versorgten. Da waren Geflüchtete zu sehen, die sich freudestrahlend mit dem Schwenken von Deutschlandfähnchen bedankten. Wie schon beim Sommermärchen der Fußballweltmeisterschaft 2006 präsentierte sich Deutschland erneut weltoffenen und menschenfreundlich. Und es wurde Erhebliches geleistet: In weniger als drei Jahren nahm das Land über 1,5 Millionen Geflüchteter auf.
Die Willkommenskultur ist am Ende
Doch die Euphorie ist der Ernüchterung gewichen - auf allen Seiten. Inzwischen dominiert ein skeptischer Grundton die Debatte um Migration und Zuwanderung. Die terroristisch motivierten Anschläge in Würzburg, Ansbach und zuletzt Berlin haben die innere Sicherheit zum Topthema der Bundestagswahl gemacht. Der Abschottung der Balkanroute folgte die innenpolitische Abschottungsdebatte.
Aber auch unter den Geflüchteten selbst machte sich Enttäuschung breit. Fehlende Sprachkurs-Angebote, kaum Möglichkeiten auf Familiennachzug und ein schleppender Zugang zum Arbeitsmarkt lassen so manche Integrationsbemühung ins Leere laufen. Einige Tausend nutzen sogar Programme zur freiwilligen Rückkehr.
Wurde anfänglich viel über die Chancen der Migration gesprochen, dominiert jetzt die Frage, wie abgelehnte Asylbewerber möglichst schnell zurückgeschickt werden können. Rechtspopulistische Bewegungen, die mit nationalistischen uns flüchtlingsfeindlichen Parolen Stimmung gemacht haben, befeuerten diese Debatte und trieben die Regierungsparteien vor sich her. So ist der Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) eng verknüpft mit ihrem harten Kurs gegen den Islam und Flüchtlinge.
Für Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, gibt es Merkels Willkommenspolitik nicht mehr: "Dem Sommer des Willkommens folgte ein lang andauernder Winter, bis in diese Sommermonate." Sichtbarstes Zeichen dafür sei, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter massivem Druck der Bundesregierung Asylgesuche im Akkordverfahren bearbeite, sagt Burkhardt im DW-Interview. "Dabei geht es längst nicht mehr um das einzelne Fluchtschicksal, sondern man verwendet Textbausteine - und man verwendet sie falsch."
Der Fall Franco A. und seine Folgen
Der Vorwurf: Die Schlampereien hätten System und würden bewusst in Kauf genommen, um möglichst schnell möglichst viele Ablehnungsbescheide zu produzieren. In einem "Memorandum für faire und sorgfältige Asylverfahren in Deutschland" hatte eine Reihe namhafter Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Caritas und Pro Asyl im November 2016 auf diese Verfahrensmängel aufmerksam gemacht.
Das zu wenig geschehen ist, offenbarte auch der Fall Franco A., der die Schwächen des Asylverfahrens schonungslos offenlegte: Der Bundeswehrsoldat war Ende April wegen Terrorverdachts festgenommen worden. Besonders brisant war, dass Franco A. sich beim BAMF als syrischer Asylbewerber ausgegeben hatte, wo man ihm tatsächlich den Flüchtlingsstatus zusprach. Dass der Deutsche kein Arabisch sprach, war den entsprechenden Mitarbeitern nicht weiter aufgefallen.
Innenminister Thomas de Maizière ordnete daraufhin mittelfristige Nachprüfungen bei insgesamt 80.000 bis 100.000 Asylverfahren an. Unmittelbar nach dem Skandal wurden 2.000 Verdachtsfälle sofort überprüft - um systematischen Verfehlungen nachzugehen. De Maizière sagte, unter den 2.000 untersuchten Fällen habe es keinen vergleichbaren Vorfall gegeben. Dennoch seien Verfahrensmängel offengelegt worden - insbesondere bei der Dokumentation.
Mehr Abschiebungen, weniger Rechtspopulisten?
Im DW-Interview klagt Rechtsanwalt Victor Pfaff, der seit über 30 Jahren Asylbewerber in Anhörungen vertritt, dass es sich um mehr als nur ein paar Dokumentationsmängel handle. "Wenn etwa ein Anhörer in einer Türkei-Sache sich den Namen von PKK-Führer Öcalan buchstabieren lassen muss und auch nicht weiß, wer Abdullah Öcalan ist, dann muss man die Anhörung abbrechen", sagt Pfaff.
Zudem werde zur Beschleunigung der Verfahren Spracherfassungssoftware eingesetzt, ohne dass die Protokolle im Anschluss auf Sinnhaftigkeit überprüft und korrigiert würden. "So sind Protokolle entstanden, die teilweise vollkommen unverständlich sind", sagt der Anwalt. Ein weiterer Trick der Behörden sei es, Asylanträge von Minderjährigen bis zum Erreichen der Volljährigkeit liegen zu lassen. Dann würden die Asylgesuche abgewiesen mit Verweis darauf, dass die Betroffenen nach ihrer Rückkehr jetzt selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen könnten, bemängelt Pfaff.
Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass die verschärfte Asylpraxis Effekte zeitigte. Die hohe Zahl abgelehnter Asylanträge ist in den ersten fünf Monaten 2017 weiter leicht gestiegen: Allein bis Ende Mai wurden 107.000 Asylanträge abgelehnt, darunter 32.000 Anträge von Afghanen. Im Gesamtjahr 2016 sprach das BAMF rund 260.000 Ablehnungen aus.
Zwar wurden Abschiebungen nach Afghanistan vorerst ausgesetzt, als unmittelbare Reaktion auf eine Serie tödlicher Attacken Anfang Juni. Günter Burkhardt von Pro Asyl ist dennoch überzeugt, dass die Regierung baldmöglichst wieder mit Rückführungen beginnen will -auch aus innenpolitischen Gründen: "Das hat mehr damit zu tun, dass man Rechtspopulisten das Wasser abgraben will, aber nichts mit der Sicherheitslage in Afghanistan."
Innenminister Thomas de Maizière widerspricht derlei Darstellungen regelmäßig. In einem Interview der Wochenzeitung "Die Zeit" sagte er: "Wenn eine Abschiebung erfolgt, dann ist das nichts anders als der Vollzug geltenden Rechts - und keine Bosheit des Staates." Festzuhalten bleibt aber: Der Satz "Wir schaffen das." hat gut zwei Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise einen gänzlich anderen Klang bekommen.