Der verlagerte Streit
18. September 2017Das Wembley-Tor, die Hand Gottes, der Konzessions-Elfmeter im WM Finale 1990 - hitzige Diskussionen über Schiedsrichterentscheidungen gab es im Fußball schon immer. Wer sich Hilfe von Videoschiedsrichtern erhofft hat, muss nach dem Confed-Cup und den ersten vier Spieltagen in der Bundesliga feststellen: diskutiert wird genauso viel wie zuvor, nur stehen nicht mehr nur die Schiedsrichter, sondern auch ihre Video-Assistenten im Brennpunkt. Spannend dürfte werden, wie DFB, DFL und die Fans mit dem möglichen Präzedenzfall von Dortmund umgehen. Der 1. FC Köln will Protest einlegen und das Spiel beim BVB (Endstand 0:5 aus Sicht der Kölner) wiederholen lassen.
Die Szene:
Ecke Borussia Dortmund von rechts. In der Mitte steigen BVB-Verteidiger Sokratis sowie die Kölner Heintz und Keeper Horn hoch. Dabei verschafft der Grieche sich mit einem leichten Schubser gegen Heintz ein wenig Raum. Heinzt prallt gegen Horn, der daraufhin den Ball fallen lässt. Sokratis reagiert am schnellsten und schiebt den Ball zum 2:0 ins Tor. Bevor das Leder jedoch die Linie überquert hat, pfeift Schiedsrichter Patrick Ittrich. Er deutet ein Foulspiel an und gibt das Tor nicht. Nach Rücksprache mit dem Videoschiedsrichter ändert er jedoch die Entscheidung und gibt den Treffer.
Die Reaktion der Vereine:
Direkt nach der strittigen Szene zu Beginn der Halbzeitpause diskutierten Kölns Trainer Peter Stöger und Manager Jörg Schmadtke mit Schiedsrichter Ittrich. Nach der Partie sagte Schmadtke: "Ich plädiere dafür, dass wir uns an das Protokoll halten. Und dass nicht jeder entscheidet, wie er gerade will." Stöger betonte, "Wir sind in einer Testphase. Wenn man will, dass der Videobeweis funktioniert, sollte man ein paar Dinge klar festlegen." Wie der Manager wertete er die strittige Reaktion des Unparteiischen als spielentscheidend: "Wenn wir mit 0:1 in die Pause gehen, ist die Hoffnung größer, dass wir das Spiel kippen können."
Die Ankündigung der Kölner, Protest einzulegen, brachte Hans-Joachim Watzke auf die Palme. Der BVB-Geschäftsführer verwies auf den höchst einseitigen Spielverlauf und den hochverdienten Sieg der Borussia nach Toren von Maximilian Philipp, Pierre-Emerick Aubameyang und Sokratis: "Wenn man nicht verlieren kann, greift man zu solchen Mitteln."
Die Fakten:
Der Pfiff des Schiedsrichters unterbricht das Spiel. Selbst wenn der Ball also nur wenige Zentimeter von der Torlinie entfernt ist und keiner mehr eingreifen kann (was in Dortmund der Fall war) dürfte der Treffer nicht zählen. Allerdings gab es Ähnliches schon einmal in der Bundesliga: Anno 1997 erzielte Sean Dundee am 2. Spieltag eine gute halbe Sekunde nach einem Pfiff von Schiedsrichter Michael Malbranc damals das 2:2 für den Karlsruher SC bei 1860 München (Endstand: ebenfalls 2:2). Malbranc hatte ein Foul des Münchners Abedi Pelé geahndet - das Tor in der 88. Minute gab er trotzdem.
"Der Ball war bei meinem Pfiff noch ein, zwei Meter vor der Linie. Man hat das im Fernsehen rauf und runter gezeigt, vor- und zurückgespult. Sie haben damals belegt, dass 0,6 Sekunden vergingen zwischen meinem Pfiff und dem Überschreiten der Torlinie durch den Ball", berichtete Malbranc später. "Ich war mir allerdings sicher, nicht vorher gepfiffen zu haben, sondern erst, als der Ball hinter der Linie war. Darum entschied ich auf Tor." Das Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) entschied auf Wiederholungsspiel, der Weltverband FIFA allerdings kassierte das Urteil mit Verweis auf die Unangreifbarkeit der Tatsachenentscheidung. Das Spiel wurde mit 2:2 gewertet. Malbranc pfiff nie wieder ein Bundesligaspiel.
Die Chancen eines Protests:
Die Kölner haben eher wenig Aussicht auf Erfolg. In der gesamten Ligahistorie wurde erst ein Spiel wegen einer Schiedsrichter-Fehlentscheidung wiederholt: Das Duell zwischen Bayern München und dem 1. FC Nürnberg am 32. Spieltag der Saison 1993/94. Thomas Helmer hatte damals den Ball am linken Torpfosten vorbeigestochert, doch Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers entschied auf (falschen) Hinweis seines Linienrichters Jörg Jablonski auf Tor. Die Bayern gewannen 2:1. Der DFB erklärte das Tor für ungültig, das Spiel musste wegen Osmers' Regelverstoß neu angesetzt werden. Das Wiederholungsspiel gewann der FC Bayern 5:0 und wurde Meister, Nürnberg stieg ab.
Auch aus anderen Gründen ist eine Neuansetzung eher unwahrscheinlich. In den Regularien für die Testphase des Videobeweises des International Football Association Board (IFAB) wird ausgeschlossen, dass Fehlentscheidungen des Video-Schiedsrichter-Assistenten (VSA) Einfluss auf die Spielwertung haben können. "Ein Spiel ist nicht ungültig aufgrund von Fehlfunktion(en) der VSA-Technologie, falscher Entscheidungen, die den VSA betreffen oder der Entscheidung, einen Vorfall nicht zu prüfen, oder der Prüfung einer nicht prüfbaren Situation", steht auf Seite neun des Protokolls, das für alle Teilnehmer der Testphase bindend ist. Der VSA sei ein "Spieloffizieller".
Ein weiterer Grund, den offiziell vermutlich niemand bestätigen würde, der aber in jedem Fall eine Rolle spielen kann, ist der große Termindruck in der Bundesliga und dem internationalen Fußball. Er könnte die Verantwortlichen dazu drängen eine Wiederholung der Partie möglichst zu verhindern.