Der Tag, an dem Kleindeutschland starb
4. August 2013Es versprach ein strahlender Tag zu werden. Ganz Little Germany war am 15. Juni 1904 auf den Beinen und strömte zum Ausflugspier East Third Street am südöstlichen Ende Manhattans. Dort hatte die deutsch-evangelische Kirchengemeinde St. Mark's zum alljährlichen Ausflug geladen. Der dreigeschossige Vergnügungsdampfer "General Slocum", sollte die Gäste nach Long Island bringen, wo ein Picknick geplant war. Der prachtvolle Anblick des Schiffes täuschte die offiziell 1331 Gäste jedoch darüber hinweg, dass Gefahren an Bord lauerten. Schwimmwesten und Löschschläuche waren in einem schlimmen Zustand. Zudem hatte sich die Reederei Schulungen der Besatzung für den Katastrophenfall erspart.
Die Katastrophe
Unter dem Kommando von Kapitän William van Schaick legte die "Slocum" gegen 9.45 Uhr ab. Nun arbeitete sich das Schiff den East River empor, entlang der imponierenden Fassade der Stadt New York. Für viele Gäste war es der erste Blick von außen auf ihre Heimatstadt. Sie genossen das Panorama und vergnügten sich beim Spiel einer deutschen Kapelle.
Doch das Unglück nahm zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Lauf. Irgendwo tief im Inneren des Schiffes entzündete sich ein Feuer, das immer schneller um sich griff. Bald spielten sich dramatische Szenen auf dem Schiff ab. Lichterloh brennend quälte sich die "Slocum" den Fluss hinauf, verfolgt von den sprachlosen Blicken der Unbeteiligten am Ufer. Da sich an den Uferanlagen Öltanks befanden, konnte der Kapitän nicht sofort ans Ufer fahren. Nahe der Insel North Brother Island kam die Fahrt des Schiffes zu einem Ende. Die vielen Helfer, die heraneilten, kamen allerdings zu spät. Etwa 1.000 Menschen waren erstickt, verbrannt oder ertrunken. Der Brand der "General Slocum" sollte die bislang schlimmste Katastrophe der zivilen Schifffahrt der USA sein – und zerstörte obendrein einen ganzen Stadtteil.
Das Ende von Little Germany
Die Stadt mit der drittgrößten deutschen Bevölkerung befand sich um 1840 keineswegs in Deutschland. Es war vielmehr New York, das nach Berlin und Wien den größten Anteil an Deutschstämmigen beherbergte. Der Traum von einem besseren Leben in der Neuen Welt war eben auch in Deutschland überaus populär – und verlockte viele Hunderttausende zur Auswanderung in die USA.
Etwa 60.000 Deutsche lebten um 1860 in dem Stadtteil "Kleindeutschland" in der Lower East Side von New York. Dieses wies viel Ähnlichkeit mit der Heimat auf, wie ein Zeitgenosse schildert: "Das Leben in Kleindeutschland ist beinahe dasselbe wie im alten Land … Es gibt kein einziges Geschäft, das nicht in deutscher Hand ist. Der Bewohner Kleindeutschlands braucht nicht einmal Englisch zu können."
Besucher des Viertels waren immer wieder erstaunt, wie deutsch dieser Flecken inmitten von New York war. Es gab Biergärten und Schützenvereine, deutsche Schulen und Kirchen. Um 1900 lebten immerhin noch 12.000 Deutsche in Little Germany – eine zwar geschrumpfte, aber intakte Gemeinde. Mit all dem war es nach der Katastrophe der "General Slocum" allerdings vorbei.
Gespenstische Ruhe herrschte im Viertel nach Bekanntwerden des Unglücks. Nahezu jede Familie hatte Todesopfer zu beklagen, darunter viele Frauen und Kinder. Die Männer waren an dem schicksalhaften Tag, einem Mittwoch, zur Arbeit gegangen. Unter der Anteilnahme ganz New Yorks trug man die Toten zu Grabe, doch bei der Verfolgung der Schuldigen ließ man manchen Sünder davonkommen. Kapitän van Schaick verbüßte drei Jahre einer zehnjährigen Haftstrafe. Die Reederei blieb ungeschoren. Little Germany ging im Gegensatz zur "General Slocum" schleichend unter, denn mit den Toten hatte die Gemeinde viele ihrer Stützen verloren. Familien zogen aus dem Viertel weg, und letztlich brach 1917 auch noch der Erste Weltkrieg über diese kleine Welt hinein. Die USA und Deutschland waren nun Gegner, deutsche Traditionspflege war in dieser aufgeputschten Stimmung unerwünscht. Heutige New York-Touristen strömen nach Little Italy und Chinatown, Little Germany ist dagegen (fast) Geschichte.