Der Streit um den Wirtschaftszwerg
2. April 2014In den nächsten Jahren wird die Ukraine den Westen erst einmal viel Geld kosten. 1,6 Milliarden Euro hat die Europäische Union kurzfristig bereitgestellt, die USA übernehmen für 800 Millionen Euro Kreditbürgschaften und der Internationale Währungsfonds geht von 15 bis 18 Milliarden Dollar aus, die das Land in nächster Zeit unbedingt braucht. Doch nachdem Russland den Gaspreis für die Ukraine um 44 Prozent angehoben hat, werden wohl noch ein paar Milliarden Euro mehr nötig sein, um den raschen Bankrott der Ukraine abzuwenden.
Doch kann die Ukraine das Geld jemals wieder zurückzahlen? Warum bemüht sich die Europäische Union so vehement um die Ukraine? Und warum will Russland den wirtschaftlich maroden Nachbarn auf keinen Fall Richtung Westen ziehen lassen?
"Die Ukraine ist mit ihren 46 Millionen Menschen ein wichtiger Absatzmarkt, aber auch ein zunehmend wichtiger Zulieferstandort für die deutsche Automobilindustrie", meint Alexander Markus von der Delegation der Deutschen Wirtschaft in Kiew. Und der außenpolitische Sprecher der FDP im Europaparlament, Alexander Graf Lambsdorff, bestätigt: "Perspektivisch hat die Ukraine großes Potential."
Die Einkommen niedrig, die Schmiergelder hoch
Großes Potential, das klingt nach schöner Zukunft und trister Gegenwart. Mit 3800 US-Dollar pro Kopf liegt die Ukraine beim Bruttosozialprodukt knapp hinter der Mongolei. Die Industrie ist veraltet, die Einkommen sind niedrig, die Schmiergelder hoch. Als die Sowjetunion vor gut 20 Jahren zusammenbrach und ein großer Teil der Staatsbetriebe privatisiert wurde, gingen aus dem Chaos des Umbruchs einige Oligarchen hervor, die ihren neuen Reichtum nun als Machtinstrument einsetzen. Sie kontrollieren nicht nur die Wirtschaft, sondern haben auch massiven Einfluss auf die Politik und behindern den Wettbewerb. Die Regierung müsste endlich klare Wettbewerbsregeln nicht nur aufstellen, sondern durchsetzen, meint Rainer Schweikert vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel, "weil nur so eine breitere Mittelschicht mit kleineren und mittleren Unternehmen entstehen kann, die für ein Wachstum notwendig sind."
Selbst die Landwirtschaft, für die die Ukraine berühmt ist, kämpft mit erheblichen Problemen. Das Land ist nach den USA und der EU der drittgrößte Getreideexporteur der Welt. Doch Misswirtschaft und fehlende Investitionen drücken auf die Qualität. Ukrainisches Getreide wird fast nur als Futtermittel gekauft. Wirklich interessant ist die Ukraine als Kornkammer weder für Europa noch für Russland, da beide selbst Getreide exportieren. Und auch die übrige Wirtschaft liefert wenig, was Russland und Europa nicht selbst reichlich hätten oder problemlos ersetzen könnten. Einfache Maschinen, Stahl, Chemieprodukte, wie sie die Ukraine heute vor allem nach Osten exportiert, sind auf dem Weltmarkt überall zu bekommen.
Ukrainische Motoren in russichen Helikoptern
Strategisch wichtig sind im Grunde nur ein paar hochentwickelte Nischensektoren. Zu Zeiten der Sowjetunion, als sich die Länder des Ostblocks nach den Vorgaben Moskaus richteten, bekam die Ukraine die Produktion von Raketenteilen und von Hubschraubermotoren zugesprochen. Noch heute fliegen praktisch alle russischen Hubschrauber mit ukrainischem Antrieb. Manche Experten glauben, dass diese ukrainischen Monopolbetriebe vielleicht einer von mehreren Gründen sein könnten, warum Moskau die Ukraine unbedingt eng an sich binden will. "Die Zusammenarbeit mit der Ukraine bei der Militärtechnik ist für Russland wichtig", schätzt der ukrainische Wirtschaftsberater Boris Kushniruk. "Ohne die Ukraine kann die russische Armee weder fliegen, noch schießen."
Doch mit der Annexion der Krim hat sich Moskau zwar den militärisch wichtigen Schwarzmeerhafen in Sewastopol gesichert, gleichzeitig aber die Kooperation mit der Ukraine aufs Spiel gesetzt. Denn unter dem Eindruck der russischen Bedrohung werde die Regierung in Kiew keine andere Wahl haben, als die militärtechnischen Lieferungen zu stoppen, glaubt Wirtschaftsberater Kushniruk. "Sonst könnten die ukrainischen Waffen später gegen die Ukraine selbst verwendet werden." Moskau steht damit praktisch vor der Wahl, entweder die ukrainischen Gebiete, in denen die wichtigen Rüstungsteile produziert werden, zu besetzen, oder eine entsprechende Produktion in Russland aufzubauen.
Oder auf Entspannung setzen. Denn wirtschaftlich braucht die Ukraine den nachbarschaftlichen Handel weit mehr als Russland. Nicht nur, dass Kiew derzeit auf keine Einkommensquelle verzichten kann. Die Abhängigkeit vom russischen Gas macht das Land nahezu manövrierunfähig. Die reichen Schiefergasvorkommen, von denen in Kiew die Rede ist, sind bislang nur Zukunftsträume. Die Erschließung braucht Geld und vor allem Zeit. "Schiefergas ist im Moment vor allem eine Drohkulisse gegenüber Moskau", meint Alexander Markus von der Delegation der Deutschen Wirtschaft: "Wenn die Ukraine in vier, fünf Jahren große Vorkommen erschließen kann, wird die Abhängigkeit von Moskau sinken. Das würde die Spielregeln verändern."
Angst vor dem Staatskollaps
Abhängigkeit - darum geht es ganz offensichtlich in diesem Konflikt. Der russische Kampf um die Ukraine habe vor allem geostrategische Gründe, meint der Europa-Abgeordnete Lambsdorff: "Es geht darum, die NATO fernzuhalten von den eigenen Grenzen und die Eurasische Union aufzubauen, die ohne die Ukraine uninteressant wäre." Wirtschaftliche Gründe spielten dabei allenfalls eine untergeordnete Rolle.
Auch für die Europäische Union sind die wirtschaftlichen Aussichten in der Ukraine zu klein, um den Einsatz der Milliarden zu rechtfertigen. Zwar wird das Assoziierungsabkommen, das die EU derzeit mit der Ukraine ausarbeitet, dort zunehmend westliche Normen, westliche Geschäftsstandards und westliche Buchhaltung einführen. Doch selbst wenn Handel und Investitionen dadurch einen deutlichen Aufschwung nehmen sollten, bleibt die Bedeutung für die EU-Länder überschaubar. Die Autozulieferer in der Ukraine beispielsweise tragen zwar 14 Prozent zum ukrainischen Export nach Deutschland bei, für die deutschen Autobauer macht das aber nur 0,3 Prozent ihrer Einfuhren aus.
Die Europäischen Interessen in der Ukraine, so Lambsdorff, ließen sich einfach zusammenfassen: Stabilität, keine Grenzkonflikte, keine Flüchtingsströme. Vor allem die EU-Mitglieder Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien drängen in Brüssel darauf, ihr Nachbarland Ukraine möglichst nah an die EU zu binden und zu stabilisieren. Schon heute leben in diesen Ländern viele Ukrainer, meist als billige Arbeitskräfte. Für Berlin, Paris oder London mag Kiew weit weg sein, meint Lambsdorff. Für Polen, Slowaken oder Litauer dagegen seien die Vorgänge in der Ukraine zutiefst beunruhigend. "Wenn dort ein Staatskollaps passiert, dann wird aus der geordneten Zuwanderung eine chaotische Situation, und daran kann Europa kein Interesse haben."