Der singende Bundespräsident
24. August 2016"Liberal sein bedeutet immer auch offen sein für Veränderungen", sagt Walter Scheel in seinem Buch "Erinnerungen und Einsichten". Das zeigte sich auch in seinem politischen Wirken.
Seit 1946 war er Mitglied der liberalen Partei. Erst im Stadtrat von Solingen, dann im Landtag von Nordrhein-Westfalen, später im Bundestag. 1968 wird er zum FDP-Bundesvorsitzenden ernannt. Am Abend vor der Wahl des Bundespräsidenten im Frühjahr 1969 schafft er es, bei den Wahlfrauen und -männern seiner Partei den SPD-Politiker Gustav Heinemann durchzusetzen. Das sei sein wichtigster Erfolg in diesem Amt gewesen, so Scheel im Rückblick. Und er leitet damit ein Umdenken seiner Partei in der parteipolitischen Zusammenarbeit ein - weg von der konservativen CDU, hin zu den Sozialdemokraten.
Bei den kurz danach anstehenden Bundestagswahlen 1969 kommt es unter Kanzler Willy Brandt zur ersten sozialliberalen Regierung mit Walter Scheel als Außenminister und Vizekanzler. Einige Jahre zuvor war er unter den Kanzlern Konrad Adenauer und Ludwig Erhard mit kurzer Unterbrechung der erste Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gewesen, dem späteren Entwicklungshilfe-Ministerium.
Gemeinsam mit Brandt "Vater der Entspannungspolitik"
Unter Bundeskanzler Brandt bereitet Scheel die neue Ostpolitik vor. Bei den Verhandlungen des Moskauer Vertrages 1972, der die Voraussetzung für die sogenannten Ost-Verträge mit Warschau, Ost-Berlin und Prag bildet, setzt er durch, dass der deutsch-sowjetische Gewaltverzicht mit der Sicherheit West-Berlins verknüpft wird.
Der Höhepunkt von Scheels Zeit als Außenminister: Das zweigeteilte Deutschland wird im September 1973 Mitglied der Vereinten Nationen. Bei seiner ersten Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sagt er: "Verstehen Sie, warum wir zögerten, den Schritt in die Vereinten Nationen zu tun? Es ist schmerzlich, der politischen Realität der Teilung des eigenen Landes ins Auge zu sehen. Wir befürchteten, ein solcher Schritt könnte den Eindruck erwecken, als resignieren wir. Als hätten wir die Hoffnung auf eine Einheit aufgegeben."
Heiterkeit und Härte
Walter Scheel stammte aus dem Bergischen Land. Am 8. Juli 1919 wird er in Solingen als Sohn eines Handwerkers geboren. Er absolviert eine Banklehre, bevor er 1939 von der Wehrmacht eingezogen wird. Im Zweiten Weltkrieg macht er den Russland-Feldzug mit, übersteht eine Typhus-Erkrankung und fliegt als Nachtjäger bei der Luftwaffe.
Im Nachkriegsdeutschland ist er als Wirtschaftsberater tätig und tritt der FDP bei. Walter Scheel strahlt Lebensfreude aus, ist stets gut gelaunt, eine Frohnatur wird er genannt. Der ehemalige Außenminister und FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher beschreibt dessen Persönlichkeit als Mischung von "Heiterkeit und Härte". Denn hinter dem stets lächelnden Scheel habe sich ein kalt kalkulierender Machtstratege verborgen.
Hitparadenstürmer als Außenminister
Im Jahr 1973 wirbt Scheel auf ungewöhnliche Art und Weise für die Behindertenhilfsorganisation "Aktion Sorgenkind", die später in "Aktion Mensch umbenannt wird: mit dem Volkslied "Hoch auf dem gelben Wagen". Das macht ihn populär, und er schafft es auf Platz fünf der Hitparade. Bis zum Frühjahr 1974 wird seine Platte über 300.000 Mal verkauft.
In einem Begleitheft zu einer Anfang 2012 erschienenen CD mit Musikstücken u.a. von Walter Scheel erinnert sich dieser, sein Lied vom "gelben Waahaagen" sei derart berühmt geworden, dass er als Bundespräsident bei einem Besuch in Mali von den Gastgebern mit diesem Volkslied empfangen worden sei anstelle der deutschen Nationalhymne.
Leichtgewicht und Integrationsfigur
Bei seiner Antrittsrede zum Bundespräsidenten am 1. Juli 1974 sagt Walter Scheel: "Auf dem, was Sie, Herr Heinemann, und die ersten beiden Bundespräsidenten, Theodor Heuss und Heinrich Lübke, an ausgewogenem Staatsbewusstsein in diesem Lande geschaffen und gefördert haben, kann ich weiterbauen. (…) Was ich als Bundespräsident dazu beitragen kann, durch Gespräche und Begegnungen mehr staatsbürgerliche Gemeinsamkeit wachsen zu lassen und die Entfaltung des Einzelnen zu fördern, das soll geschehen." Scheel will das Miteinander fördern und nicht das Gegeneinander.
Im Vergleich zu seinen Vorgängern gilt er als eher leichtgewichtiger Bundespräsident, als weniger politisch und weniger prägend. Laut Zeitgenossen habe er im Ausland aber eine gute Figur gemacht und sein Amt mit rhetorischem Glanz und staatsmännischer Würde versehen. Der Historiker Arnulf Baring nennt Walter Scheel sogar "Mr. Bundesrepublik".
In einer Zeit, als in Deutschland Rezession herrschte und der RAF-Terror den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland bedrohte, wirkte Scheel als Integrationsfigur. "In den schweren Wochen des deutschen Herbstes gab er den Deutschen Mut und Orientierung. Er verteidigte die freiheitliche Grundordnung gegen ihre Verächter und machte zugleich deutlich, dass auch diese Feinde der Verfassung nicht rechtlos gestellt werden dürfen", so Alt-Bundespräsident Horst Köhler 2009 in seiner Laudatio für Walter Scheel zu seinem 90. Geburtstag.
Nach fünfjähriger Amtszeit scheidet Scheel am 30. Juni 1979 aus dem Amt. Anschließend ist er gesellschaftlich aktiv, hat viele verschiedene Ehrenämter inne und mischt sich immer wieder in die Parteipolitik der FDP ein.
In den vergangenen Jahren war es still geworden um Walter Scheel. Der Altbundespräsident litt an Demenz und lebte seit einigen Jahren in einem Pflegeheim in Bad Krozingen. Er starb am 24. August 2016 im Alter von 97 Jahren.