Der rasante Aufstieg der Eva Kaili
12. Dezember 2022In Griechenland gelten Kommunalwahlen als ideales Sprungbrett auf dem Weg zu höheren Ämtern. Seit Beginn der 2000er Jahre halten die griechischen Wählerinnen und Wähler Ausschau nach frischen Gesichtern. 2006 sorgte ein gewisser Alexis Tsipras für Schlagzeilen, als er für das Bürgermeisteramt der Hauptstadt Athen kandidierte und auf Anhieb über zehn Prozent der Stimmen für seine Linkspartei SYRIZA holte. 2015 wird Tsipras Ministerpräsident und regiert das Land vier Jahre lang.
In Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands, machte damals eine junge Frau von sich reden: Eva Kaili, Architektur-Studentin und ab 2002 Stadträtin für die sozialdemokratische Fraktion des späteren Sicherheitsministers Spiros Vougias, der an der Universität lehrte und dort auf Kaili aufmerksam wurde. Damals wurde Jungsozialistin jüngste Stadträtin in der Geschichte Thessalonikis - und "zudem auch noch die schönste", so die griechische Zeitung Proto Thema.
Darf eine Politikerin gut aussehen? Wird Eva Kaili auf ihr Äußeres reduziert? Diese Fragen werden die junge Griechin nie wieder loslassen. In einem späteren Interview mit der Athener Wochenzeitung Parapolitika erklärt sie: "Es war schwierig, mit dieser Mentalität umzugehen. Aber ich habe dadurch auch gelernt, höhere Ansprüche an mich selbst zu stellen. Vielleicht würde ich mir nicht so viel Mühe geben, wenn ich nichts zu beweisen hätte."
Kaili muss draußen bleiben
Ihr erster Mentor, Spiros Vougias, gilt als Schöngeist und Bonvivant, dem die Niederungen der Politik eher fremd sind. Aber er hat einen guten Draht zum neuen Chef der sozialistischen PASOK-Partei Giorgos Papandreou. Davon profitiert die frisch gekürte Stadträtin. Bei der Parlamentswahl 2004 gewinnt Eva Kaili einen Sitz für die Sozialisten - als eine der jüngsten Abgeordneten in der Geschichte Griechenlands. Es ist eine Riesenüberraschung. Doch sie muss auf das Mandat verzichten.
Denn laut Wahlgesetz darf Parteichef Papandreou in mehreren Wahlkreisen kandidieren und sich erst nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse auf einen Wahlkreis festlegen. Wider Erwarten entscheidet sich Papandreou für den Wahlkreis Thessaloniki. Und Kaili geht leer aus.
Kurzer Abstecher in den Journalismus
Daraufhin fasst die verhinderte Parlamentarierin eine Karriere als TV-Moderatorin ins Auge und absolviert einen sechsmonatigen Kurs im Athener "Ergastiri (Labor) für Journalismus". An dieser Privatschule wurden ganze Generationen von Journalisten unterrichtet. Es ist eine harte Ausbildung: Oft müssen die Absolventen bei Null anfangen und mehrere unterbezahlte Jobs in Kauf nehmen, bis sie sich am hart umkämpften Athener Medienmarkt behaupten können. Kaili bleibt dieser Leidensweg erspart. Noch vor ihrem Abschluss darf sie das Mittagsmagazin des führenden griechischen TV-Senders MEGA moderieren. Die Quoten lassen sich durchaus sehen.
In einem späteren MEGA-Interview berichtet die aufstrebende Politikerin, sie sei "traurig" gewesen, als Papandreou den Parlamentssitz in Thessaloniki für sich in Anspruch nahm. Er hätte diese Entscheidung wohl deshalb getroffen, weil ihm die junge Abgeordnete weniger Probleme bereiten würde als etwa die alteingesessenen Sozialisten. Ein Seitenhieb gegen den Chef? Jedenfalls fühlte sie sich zu diesem Zeitpunkt "motiviert und trotzig", gibt Kaili zu Protokoll.
Ein sexistischer Angriff, der ungesühnt bleibt
Ihre Chance sollte tatsächlich noch kommen. 2007 schafft Eva Kaili erneut den Sprung ins Parlament und darf diesmal ihren Sitz behalten. Viele Parteigenossen begegnen ihr mit Skepsis. Ganz rau wird der Ton im Zuge der griechischen Schuldenkrise. Nachdem Premier Papandreou im Jahr 2011 eine Volksabstimmung über die Sparauflagen der Gläubiger ankündigt und von den EU-Partnern zurückgepfiffen wird, kommt es zum Bruch mit Finanzminister Evangelos Venizelos. Überraschend ergreift Kaili Partei für Venizelos und zieht dadurch den Zorn sämtlicher Altsozialisten auf sich.
In einer Krisensitzung der Fraktion beschimpft der damalige PASOK-Generalsekretär Sokrates Xinidis die junge Parlamentarierin als "Schlampe". Premier Papandreou sieht trotzdem keinen Handlungsbedarf. Obwohl Kaili ein innerparteiliches Disziplinarverfahren fordert, bleibt dieser Angriff bis heute ungesühnt. Immerhin hat Xinidis mittlerweile die politische Bühne verlassen. In einem späteren Interview mit der Zeitung To Vima bemerkt Kaili, er hätte sich vor allem bei seinen eigenen Wählerinnen entschuldigen müssen.
Eine neue Polit-Karriere in Europa
Bei der Europawahl 2014 macht die Sozialistin einen Neuanfang und zieht für PASOK ins Europäische Parlament in Brüssel ein. Oft bemühen sich die EU-Parlamentarier aus Hellas um eine Mitgliedschaft im prestigeträchtigen Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten - doch Kaili legt den Fokus lieber auf Industrie- und Handelspolitik. Ob es um Digitalisierung, Elektromobilität oder Geo-Blocking geht, sie ist zur Stelle, nicht zuletzt als Vorsitzende der einflussreichen Lenkungsgruppe zur Zukunft von Wissenschaft und Technologie (STOA). Im Januar 2022 wird die Griechin mit breiter Mehrheit zur Vizepräsidentin des EU-Parlaments gewählt.
Mit dabei für die PASOK in Brüssel ist Nikos Androulakis, ein junger Ingenieur aus Kreta. Die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein: Androulakis stammt aus einfachen Verhältnissen, erscheint auf den ersten Eindruck eher zurückhaltend und plädiert für eine Rückbesinnung auf sozialistische Werte. Dass auch er über ein besonderes Polit-Talent verfügt, zeigt sich spätestens im Dezember 2021, als Androulakis zum neuen Vorsitzenden der griechischen Sozialisten gewählt wird und sich dabei sogar gegen Ex-Premier Papandreou durchsetzt.
Dadurch verschiebt sich das Gleichgewicht in Brüssel. Früher durfte sich Kaili "Vorsitzende der PASOK-Parlamentsfraktion im Europäischen Parlament" nennen - sie ist jedoch Chefin einer Fraktion, die lediglich aus zwei Abgeordneten besteht. Nun ist Androulakis der Chef. Immer wieder berichtet die griechische Presse von Streitigkeiten zwischen den beiden. Im Sommer kommt es zum Bruch, als Androulakis sich zum Opfer der Abhöraffäre in Griechenland erklärt und Kaili daraufhin auf Distanz zu ihm geht.
Nach Bekanntgabe der jüngsten Korruptionsvorwürfe zieht der Sozialisten-Chef schnell die Reißleine, schließt Kaili aus der Partei aus und bezeichnet sie dabei als "trojanisches Pferd der (in Griechenland gerade regierenden) Konservativen". Die Korruptionsvorwürfe hätten das Fass zum Überlaufen gebracht, sagt Androulakis dem Athener TV-Sender Alpha, ohne Details zu nennen. Ob die Vorwürfe auch berechtigt sind, will der Sozialistenchef nicht beurteilen. Sein Fazit: "Ich bin kein Richter, ich weiß es nicht, aber ich musste eine Entscheidung treffen, um unsere Partei zu schützen."