"Kompromissmaschine" Merkels letzter Gipfel
22. Oktober 2021Ein zweieinhalbminütiges Video von ihren eindrücklichsten Gipfelmomenten, unterlegt mit Klaviermusik. Eine Rede, in der es hieß, ein EU-Gipfel ohne Angela Merkel sei wie Paris ohne Eiffelturm oder Rom ohne den Vatikan. Und eine Geschenkskulptur, die den Europäischen Rat in Brüssel darstellen soll. So verabschiedeten EU-Ratschef Charles Michel und Merkels 26 europäische Amtskolleginnen und -kollegen die deutsche Kanzlerin. Da vermutlich im Dezember der Sozialdemokrat Olaf Scholz Merkels Amt übernehmen wird, handelte es sich bei diesem 107. EU-Spitzentreffen der Bundeskanzlerin auch sehr wahrscheinlich um ihr letztes.
Während der österreichische Kanzler Alexander Schallenberg sie als "Ruhepol innerhalb der EU" beschrieb und als "zweifellos große Europäerin", glaubte Luxemburgs Premierminister wohl ein Geheimnis zu verraten, als er sagte: "Die meisten Leute wissen das nicht, aber Frau Merkel war eine Kompromissmaschine." Und: "Ich werde sie vermissen."
Denn tatsächlich ist es wohl gerade Merkels Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Positionen in der EU vermitteln zu können, die die anderen 26 EU-Spitzen am meisten vermissen könnten. Litauens Präsident Gitanas Nauseda etwa nannte sie einen "stabilisierenden Faktor", der in politisch schwierigen Zeiten absolut notwendig sei. Dafür schätze er sie wirklich sehr.
Angela Merkel selbst wählte wenig emotionale Worte, als sie sich nach dem zweitägigen Treffen in Brüssel vor der versammelten Presse präsentierte. Sie gehe in einer Situation, die ihr durchaus Sorgen mache. "Wir haben viele Krisen überwinden können." Aber: "Die Baustellen für meinen Nachfolger sind groß."
Zwei Themen, die laut Merkel zu den Hauptbaustellen der Union gehören - Migration und der Schutz des Rechtsstaats - bestimmten auch den EU-Gipfel.
Polen und der Rechtsstaat
Vor allem der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki stand dabei im Fokus. Polen baut seit Jahren systematisch sein Justizsystem um. Auch wenn das Thema die Union schon lange spaltet, hob ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, nach dem Teile des EU-Rechts nicht mit nationalem Rechte vereinbar seien, den Streit auf eine neue Ebene. In einer Pressekonferenz nach dem Gipfel warf Morawiecki einigen EU-Staaten vor, die Justizreform des Landes einfach nur nicht richtig zu verstehen. Polen habe kein Problem mit dem Rechtsstaat.
Viele EU-Staats- und Regierungschefs sehen das allerdings anders. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron etwa forderte "konkrete Gesten" von der polnischen Regierung.
Verfahrener Streit um die EU-Asyl- und Migrationspolitik
Auch beim Thema Migration spielt Polen in Brüssel eine entscheidende Rolle. Wie andere EU-Staaten wirft das Land dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, Geflüchtete und Migranten über Polen, Litauen und Lettland in die EU einzuschleusen.
Angela Merkel bezeichnete dieses Vorgehen als "hybride Bedrohung" und "politische Instrumentalisierung" auf dem Rücken von Menschen. Und obwohl alle EU-Staaten diese Einschätzung teilen, sind sie sich uneins, wie die EU darauf reagieren soll.
Während Deutschland etwa weitere Sanktionen ins Spiel brachte, wollen ein Dutzend EU-Länder, darunter Polen, Lettland und Litauen, vor allem eines: mehr Geld und Hilfe, um die Außengrenzen der Union zu bewachen.
Der österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg etwa forderte, dass die EU Drohnen und Zäune mitfinanzieren solle. "Warum sollten ausschließlich die litauischen Steuerzahler die Last tragen, wenn sie eigentlich uns alle schützen", so Schallenberg. EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen erteilte solchen Wünschen allerdings eine Absage. Stacheldrahtzäune und Mauern sollen ihrer Ansicht nach nicht von der EU finanziert werden.
Schallenbergs luxemburgischer Amtskollege Xavier Bettel sagte, die EU müsse den richtigen "Balanceakt" finden und im Einklang mit den Menschenrechten handeln.
Der Streit um die EU-Asyl- und Migrationspolitik treibt die Union seit Jahren um. Obwohl die EU-Kommission bereits im Herbst 2020 einen neuen Migrationspakt vorgestellt hat, geht es seitdem kaum voran. Gerald Knaus, Vorsitzender der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, sieht vor allem die Lage an der EU-Außengrenze mit Belarus mit Sorge: "Wir werden es erleben, dass Menschen im Winter sterben, weil die EU sie nicht reinlässt. Und das ist einfach schrecklich."
Dass das Thema Migration in der Union noch nicht gelöst sei, sagte die scheidende Kanzlerin Angela Merkel, mache die EU von außen verwundbar. Merkel selbst hat es allerdings in ihren 16 Jahren Amtszeit hier nicht geschafft, eine Lösung herbeizuführen. Kompromissmaschine hin oder her.