Der Gipfel der schönen Worte
7. Mai 2021Zum ersten Mal nach Monaten des Lockdowns treffen sich die EU-Regierungschefs wieder physisch. Der portugiesische Premier António da Costa hat nach Porto eingeladen, um ein sozialdemokratisches Herzensanliegen voranzubringen: Verpflichtende Ziele für mehr soziale Rechte in Europa.
Aber nicht alle EU-Mitgliedsländer wollen eine solche gemeinsame Politik. Zu Beginn des Gipfels wird an den Kompromissen noch gefeilt und ein paar Regierungschefs fehlen in der portugiesischen Hafenstadt. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der niederländische Premier Mark Rutte lassen die Gelegenheit aus, mit ihren europäischen Kollegen über Sozialpolitik und andere aktuelle Themen, etwa die Impfstoff-Lizenzen, persönlich zu reden.
Seit Göteborg ist nicht viel passiert
Vor dreieinhalb Jahren wurde im schwedischen Göteborg die Sozialpolitik als europäisches Anliegen entdeckt. Damals einigte man sich auf die sogenannte "soziale Säule" der EU und versprach einen Aktionsplan. Der ließ dann allerdings auf sich warten. Erst im Frühjahr dieses Jahres stellte die EU-Kommission in Brüssel ihre Vorschläge vor: Dazu gehören unter anderem ein europäischer Mindestlohn und Pläne zur Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit, der Kinderarmut und der Lohnungleichheit für Frauen. Hinzu kommen Forderungen, die Rechte sogenannter Plattform-Arbeiter, deren Aufträge oder Dienstleistungen über Online-Plattformen vermittelt werden, zu verbessern, und eine Bildungsgarantie für Arbeitnehmer.
In einem Aufruf der Sozialdemokraten im Europaparlament wird die Liste der Vorhaben vorgetragen: "Wir wollen Ziele mit Zähnen", heißt es da, "um soziale Rechte für alle Europäer Realität werden zu lassen. Wir verlangen bindende Ziele, um die Ungleichheiten in unseren Gesellschaften zu verringern." Sie müssten rechtlich durchsetzbar sein und die EU-Mitgliedsländer müssen bei ihrer Umsetzung überwacht werden.
Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass dem portugiesischen Gastgeber ein solcher Sprung nach vorn gelingt. Das liegt auch an der Schwäche der Sozialdemokratie in Europa: António da Costa ist einer ihrer wenigen unangefochtenen Regierungschefs. Sein spanischer Kollege Pedro Sánchez musste eine schwere Schlappe bei der Regionalwahl in Madrid einstecken, in Finnland drohte gerade die Koalitionsregierung zu kippen, in Bulgarien reicht es für die Sozialistische Partei zu keiner Regierungsmehrheit. Und die Umfragewerte für die SPD in Deutschland sind im Keller. Hinter den großen sozialpolitischen Forderungen nach Überwindung der Ungleichheit in Europa steht kaum noch reale politische Macht.
In der EU-Kommission hofft man dagegen auf "starke Verpflichtungen für eine faire und integrative Erholung (von der Pandemie) und eine klare Zusage, die sozialen Rechte umzusetzen". Gleichzeitig aber wird eingeräumt, dass es keine Fristen für die Umsetzung der jeweiligen nationalen Ziele in den Mitgliedsländern geben soll. Die sozialen Pläne bleiben danach weiter unverbindlich.
Kritik von außen und innen
Pünktlich zum Gipfel in Porto kam von einem der großen europäischen Arbeitgeberverbände Kritik am EU-weiten Mindestlohn: Man brauche dynamische und anpassungsfähige Arbeitsmärkte, die sozialen Sicherungen für Teilzeit- und Fristverträge oder Plattform-Arbeiter seien ausreichend - und überhaupt fehle den Vorschlägen aus Brüssel die rechtliche Basis. Die EU-Kommission sei für die Regulierung des Arbeitsmarktes in der EU nicht zuständig, heißt es in einer Erklärung von "Ceemet", dem europäischen Arbeitgeberverband der Metall- und Technologiebranche.
Ein politischer Warnschuss aber von elf EU-Mitgliedsländern, der sich gegen die Kommission und andere Vorkämpfer für soziale Rechte wendet, wies schon im Vorhinein auf tiefgreifende Uneinigkeit: "Jede Aktion auf EU-Ebene sollte die Aufteilung der Kompetenzen in der Union, ihrer Mitgliedsstaaten und Sozialpartner respektieren", heißt es in der gemeinsamen Stellungnahme, unterschrieben von den "Sparsamen Vier", den Niederlanden, Österreich, Dänemark und Schweden, sowie den baltischen Ländern, Finnland, Irland und Bulgarien.
Sie machen deutlich, dass sie der EU jedenfalls nicht noch mehr Kompetenzen übertragen wollen und erinnern an "unterschiedliche nationale Ausgangspunkte, die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit". Die SPD-Europaabgeordnete Gaby Bischof räumt ein, dass es bei den Visegrad-Ländern "keine Begeisterung für armutsfeste Mindestlöhne gibt und in den skandinavischen Ländern auch nicht". Diese Debatte werde das kontroverseste Thema beim Sozialgipfel in Porto. Bischof hält es übrigens auch für ein schlechtes Signal, dass Angela Merkel das Treffen abgesagt habe.
Musterschüler Frankreich
Der französische Präsident Emmanuel Macron wiederum nutzt das Treffen in Porto als Bühne, um seine Ideen und Forderungen für die wirtschaftliche Erholung in der EU nach dem Ende der Pandemie vorzutragen. Er will in Porto an verschiedenen Treffen auch mit Sozialpartnern und Vertretern der Zivilgesellschaft teilnehmen - die französische Sozialpolitik ist getrieben von starken Gewerkschaften und Protestbewegungen. Paris hat Interesse an europäischen Regelungen, wie zuletzt der Arbeitnehmer-Entsende-Richtlinie, die er in seinem Sinne beeinflusst hatte. Und in punkto Mindestlohn ist Frankreich Musterschüler: Er wurde schon vor Jahren eingeführt und ist im EU-Vergleich hoch. Französische Diplomaten loben ausdrücklich das europäische Sozialmodell, das im Gegensatz zu dem in China oder der USA stehe, versprechen, sich für gleiche Löhne für Frauen einzusetzen, und zitieren den "verantwortlichen Kapitalismus".
Wie die Differenzen zwischen den sehr unterschiedlichen Ansichten über die Zuständigkeit der EU für Sozialpolitik überwunden werden können, und ob dabei mehr herauskommt als unverbindliche Absichtserklärungen und ein Gipfel der schönen Worte, ist zu Beginn des Treffens in Porto noch offen. Am Rande soll es auch um aktuelle Themen gehen, etwa die von den USA angestoßene Freigabe von Lizenzen für Corona-Impfstoffe. Hier vollzieht die EU eine Kehrtwende, wenn sie sich jetzt der Biden-Regierung anschließt, denn auch sie gehörte bisher in der Welthandelsorganisation zu den Bremsern.