Grundeinkommen: Ein Weg für Europa?
23. November 2020Was wäre, wenn sich niemand mehr Sorgen um sein Einkommen machen müsste? Diese Frage hat sich Marwa Fatafta in den vergangenen Wochen oft gestellt. "Ich glaube, es würde so viel Angst und Stress einfach wegfallen", sagt sie. Fatafta kam als palästinensische Migrantin nach Deutschland, baute sich in Berlin eine Existenz auf und arbeitet heute bei Access Now, einer Organisation, die sich für digitale Persönlichkeitsrechte einsetzt.
"Mir war schon ziemlich früh klar, dass Freiheit für mich auch bedeutet, finanziell unabhängig zu sein", sagt Fatafta der DW. "Früher wollte ich von der Kunst leben. Als mir klar wurde, dass ich damit kein regelmäßiges Einkommen haben werde, habe ich den Traum aufgegeben."
Marwa Fatafta ist eine von rund zwei Millionen in Deutschland lebenden Menschen, die sich für das Pilotprojekt Grundeinkommen beworben haben. 122 von ihnen bekommen ab kommendem Frühjahr drei Jahre lang monatlich 1200 Euro überwiesen. Bedingungslos.
Mit der Studie wollen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Verein Mein Grundeinkommen herausfinden, welche Auswirkungen ein bedingungsloses Grundeinkommen auf unsere Gesellschaft hat.
Alle bekommen es, doch nicht alle profitieren
"Diese Studie ist eine Riesenchance, um die theoretische Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen, die uns uns seit Jahren begleitet, in die soziale Wirklichkeit überführen zu können", sagt Studienleiter Jürgen Schupp vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. "Wir möchten herausfinden, ob die Auszahlung eines bedingungslosen Grundeinkommens über einen längeren Zeitraum zu statistisch signifikanten Veränderungen im Handeln und Empfinden führt."
Das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens ist erstmal recht einfach: Jeder Mensch bekommt jeden Monat einen festen Betrag vom Staat, egal, wer er ist oder was er macht. Anders als beim Hartz-IV-Regelsatz kann das Grundeinkommen weder gekürzt werden, noch müssen die Beziehenden irgendwelche Gegenleistungen erbringen. Dazuverdienen ist erlaubt.
Welcher Betrag wäre dafür angemessen? Dazu haben die Menschen in Deutschland eine klare Vorstellung - und die liegt im Durchschnitt recht nah an den 1200 Euro, die das Pilotprojekt vorsieht.
Damit der Staat genug Geld hat, um jedem Bürger ein monatliches Grundeinkommen zu zahlen, sind verschiedene Finanzierungsmodelle denkbar - etwa die Erhöhung der Einkommens-, Erbschafts-, oder Finanztransaktionssteuer. Je nach Finanzierungsmodell haben Menschen mit geringem Einkommen dann mehr Geld zur Verfügung, die sogenannte Mittelschicht hat etwa gleich viel und die Reichsten haben etwas weniger als vorher.
Grundeinkommen soll Zusammenhalt in Europa stärken
Die Idee eines Grundeinkommens wird in in vielen europäischen Ländern diskutiert. Nun will eine Bürgerinitiative, dass sich auch die EU-Kommission damit befasst. Sie fordert die Kommission auf, einen Vorschlag für bedingungslose Grundeinkommen in der gesamten EU vorzulegen. Das soll regionale Unterschiede verringern und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in Europa stärken.
Die Initiative ist erfolgreich, wenn innerhalb eines Jahres eine Million EU-Wahlberechtigte unterzeichnen und gleichzeitig in sieben Ländern ein bestimmte Mindestanzahl an Unterschriften zusammenkommt.
Derzeit ist das für die Unterstützer noch ein weiter Weg. Knapp zwei Monate nach dem Start der Initiative haben rund 72.000 EU-Bürger unterschrieben (Stand 21.11.2020). Doch ein Etappenziel können die Aktivistinnen und Aktivisten schon verzeichnen. Slowenien hat als erstes Land die nötige Mindestmarke von 5640 Unterschriften geknackt.
"Dort hat es eine junge, dynamische Truppe hinbekommen, auf Facebook, Twitter und Instagram viel Jugend zu erreichen", sagt Ronald Blaschke, Koordinator der Kampagne in Deutschland.
Breite Debatte in Frankreich
In Polen oder Malta gibt es laut Blaschke dagegen kaum eine öffentliche Debatte zum Grundeinkommen. "Dort gibt es keine zivile Bewegung und keine großen Verbände - wie bei uns zum Beispiel die katholische Arbeitnehmerbewegung -, die sich irgendwie mit dem Thema beschäftigen."
Anders sieht es in Frankreich aus. Dort sei die Szene der Befürworter sehr heterogen. "Sie reicht von der ökologischen Bewegung über das Engagement gegen Armut bis hin zu liberalen Denkströmungen", sagt Ronald Blaschke der DW. Unter Macron sei die Einführung eines Grundeinkommens natürlich nicht möglich. "Aber man merkt schon, dass die Debatte in Frankreich viel breiter aufgestellt ist als in anderen Ländern."
Die Schweiz ist das erste europäische Land, das vor vier Jahren über ein bedingungsloses Grundeinkommen abgestimmt hat. Doch die Volksinitiative scheiterte krachend: Fast 77 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer lehnten ein Grundeinkommen ab.
Studie: Kaum Belebung des Arbeitsmarktes
Trotz solcher Rückschläge wird die Idee eines Grundeinkommens immer wieder durchgespielt - wie jüngst in Finnland. In den Jahren 2017 und 2018 erhielten dort 2000 zufällig ausgewählte arbeitslose Finninnen und Finnen jeden Monat ein Grundeinkommen von 560 Euro statt der normalen Arbeitslosenhilfe - keine Anträge, keine Formulare, keine Bürokratie. Und: Sie durften so viel dazuverdienen, wie sie wollten.
Den Teilnehmenden ging es laut der Studie durch das Grundeinkommen psychisch besser. Sie waren glücklicher und entspannter. Die finanzielle Absicherung könnte ihnen auch die Möglichkeit geben, neue berufliche Projekte auszuprobieren, ohne das Risiko, damit eventuell pleite zu gehen. Doch solche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt waren in Finnland nicht nachweisbar. Im Schnitt arbeiteten die Teilnehmenden pro Jahr gerade sechs Tage mehr als die Menschen in der Kontrollgruppe ohne Grundeinkommen.
Und wer geht dann noch arbeiten?
Damit trifft die Studie einen der größten Streitpunkte, wenn es um die Einführung eines Grundeinkommens geht. Kritiker fürchten, dass es die Mehrheit der Bürger dann lieber vorzieht, gar keiner Arbeit mehr nachzugehen.
"Hinzu kommt, dass ein von der Erwerbsarbeit abgekoppeltes Grundeinkommen den Druck, die Massenarbeitslosigkeit konsequent zu bekämpfen, mindern würde", meint der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Und: "Selbst wenn die Erwerbslosen damit materiell besser als bisher abgesichert wären, bliebe das Problem ihrer sozialen Exklusion bestehen."
Doch tatsächlich hat eine Studie des Marktforschungsinstituts Splendid Research ergeben, dass drei von vier Deutschen beteuern, dass sie weiterarbeiten würden - unabhängig von der Höhe eines Grundeinkommens. "Eher möchten die Menschen ihre Arbeitszeit reduzieren, um mehr Zeit für die Familie oder ehrenamtliches Engagement zu haben", sagt Ronald Blaschke.
Auch Marwa Fatafta will nicht aus ihrem Job aussteigen, sollte sie das Grundeinkommen für drei Jahre gewinnen. "Ich mag meinen Job, das ist nicht die Frage", sagt sie. Trotzdem könne ein bedingungsloses Einkommen helfen, den Druck aus vielen Lebenssituationen zu nehmen. "Es wäre doch schön, wenn die Menschen nicht aus Angst, sondern aus einem positiven Gefühl heraus berufliche Entscheidungen treffen könnten", so Fatafta. "Wenn wir Dinge tun, weil sie für die Gesellschaft und für uns eine Bedeutung haben - und nicht nur einen Marktwert."