Antisemitismus in Deutschland
30. Januar 2013Das Lachen der Jugendlichen hallt zwischen den Granitplatten. Eingemeißelt in den schwarzen Stein mahnen große Buchstaben, niemals die Toten des Holocausts zu vergessen. Es ist zugig und düster. Illana Gluz hat den Lichtschalter nicht gefunden. Sie fröstelt. Unten dreht jemand plötzlich die Musik auf – der fetzige Pop dröhnt die Treppe hinauf zum Flur vor dem Gebetsraum der Kölner Synagoge. In der Empfangshalle proben die jungen Leute für den Jewrovision, einen Musikwettbewerb für jüdische Jugendliche. 108 jüdische Gemeinden gibt es in Deutschland mit rund 105.000 Mitgliedern. Viele von ihnen werden Gruppen zum großen Finale im März nach München schicken. Auch die Kölner Gemeinde ist vertreten.
Beschimpfungen und Beleidigungen
Ilana verbringt jedes Wochenende in der Synagoge, manchmal auch mehr. Die Proben für den Jewrovision nehmen viel Zeit in Anspruch: "Die Synagoge ist halt mein zweites Zuhause." Ihr Zuhause – und bis vor kurzem ihr letzter Zufluchtsort, fügt die Achtzehnjährige nach einer kurzen Pause hinzu. Vor einem Jahr ist sie von Mönchengladbach nach Köln umgezogen. Davor hatte sie jede Woche die Tage gezählt, bis sie wieder in die Synagoge und zu der Jugendgruppe durfte - weg von den Beschimpfungen und Beleidigungen, den Konfrontationen. Schon in der Grundschule riefen ihre Mitschüler ihr "Judensau" hinterher oder auch mal: "Na Jüdin, heute schon ein paar Palästinenser in die Luft gesprengt?" Verprügelt worden ist sie schon öfters, einmal haben sie ihr Ziegelsteine hinterhergeworfen.
Ihre ukrainischen Großeltern, deren Eltern nur knapp das Konzentrationslager (KZ) überlebt haben, bitten Ilana, sich zurückzuhalten: Es müsse doch nicht jeder wissen, dass sie Jüdin sei, hat ihre Großmutter ihr mal geraten. Ilana schüttelt den Kopf. Warum muss sie verheimlichen, dass sie Jüdin ist? Ausgerechnet hier, in Deutschland?
Antisemitismus ist "salonfähig"
Beleidigungen und Beschimpfungen bis hin zur körperlichen Gewalt? Ja, Daniel Alter nickt: "Wissen Sie, das ist doch völlig normal in Deutschland." Der Rabbiner sitzt in einem Café in der Nähe der Berliner Synagoge. Fast ein Drittel aller Deutschen sei antisemitisch, sagt er: "Das zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten." Ein Beleg dafür nennt er allerdings nicht. Alter ist seit November Anti-Semitismus-Beauftragter der jüdischen Gemeinde in Berlin. Nur wenige Schritte entfernt stehen zwei Sicherheitsbeamten und beobachten aufmerksam die Leute, die in dem jüdischen Café ein- und ausgehen. Handys, Laptop, alle Elektrogeräte müssen ausgeschaltet sein. Aus Sicherheitsgründen.
Nährboden Nahostkonflikt?
Vor der Synagoge, in der Alter sein Büro hat, stehen auch immer bewaffnete Wachmänner, aber auch vor der jüdischen Schule, auf die seine Kinder gehen. "Glauben Sie, ich arbeite gerne hinter einer Sicherheitsschleuse?", fragt er und schüttelt den Kopf. Aber es ginge halt nicht anders. Seine Kippa trägt er unter seiner schwarzen Mütze versteckt. Das hat er, obwohl seine Frau ihm seit langem dazu rät, nicht immer getan. Im vergangenen Jahr wurde er von vier arabisch-stämmigen Jugendlichen krankenhausreif geschlagen, einfach so, auf offener Straße.
So wie die vier Jugendlichen, glaubt Ahmed Mansour, denken viele arabisch- und türkisch-stämmige Menschen in Deutschland: "Viele sind latent antisemitisch." Er arbeitet als Streetworker in Berlin und leitet Workshops zum Thema Toleranz. Er sieht die Schuld bei den Familien: "Viele, vor allem Palästinenser, sind während der Nahostkriege nach Deutschland geflohen, die sind hoch traumatisiert." Sie würden ihren Kindern dann oft ein verzerrtes Bild vermitteln, in dem sie die Opfer und die Juden die Täter sind. "Zwischen Juden und Israelis wird nicht unterschieden, alle Juden werden für den Nahostkonflikt verantwortlich gemacht", fügt Mansour, der arabischer Israeli ist, hinzu. Durch Hassvideos und bei Predigten, die ungefiltert über die sozialen Medien, aber auch in manchen Moscheen in Deutschland propagiert werden, würden Muslime aufgestachelt. Mansour lehnt sich über den Tisch: "Ich will jetzt nicht sagen, dass der Islam per se antisemitisch ist. Aber es bedarf einer kritischen, reflektierten Auslegung – und die ist nicht immer gegeben."
Auch unter Deutschen verbreitet
Es bedarf mehr Aufklärung und Austausch in Deutschland, da sind sich Alter und Mansour einig, angefangen in der Schule. Das findet Ilana auch. "Die Lehrer trauen sich kaum über das Thema zu sprechen." Sie selbst hat es immer wieder versucht, Referate gehalten, mit Freunden geredet, manchmal voller wütender Verzweiflung auf den Tisch gehauen: "Aber irgendwie bringt das alles nichts." Manchmal, sagt sie, habe sie Angst sich selbst zu verlieren, Angst, dass die Wut in Hass umschlägt.
Nicht alle erleben den gleichen antisemitischen Hass. Sammy Porath schüttelt den Kopf: Judenwitze, klar, aber Beschimpfungen? Sammy steht vor dem Büro der Betreuer im Keller der Kölner Synagoge. "Super Jews Base" steht auf einem selbstgemalten Schild auf der Tür, eine ausgeblichene Girlande aus kleinen Israelfahnen hängt in der Ecke.
Im Sommer möchte Sammy mit seinem Vater einen Bio-Superladen aufmachen. Koscher, in der Kölner Innenstadt. Aber ob er das auch so publik macht, weiß der Anfang Zwanzigjährige noch nicht. Nicht, dass mal ein Ziegelstein durch das Fenster fliegt.
In der Eingangshalle der Synagoge hat jemand die Musik ausgeschaltet, die Jugendlichen packen ihre Sachen zusammen, gehen durch die Sicherheitsschleuse. Der Wachmann macht die Lichter aus, schließt ab.