Der Bundestag: Ein Parlament der Akademiker?
31. Oktober 2021Josip Juratovic war 15 Jahre alt, als er 1974 mit seiner Mutter, einer kroatischen Gastarbeiterin, nach Deutschland kam. Er machte einen Hauptschulabschluss und anschließend eine Ausbildung in einer Autowerkstatt. Sieben Jahre lang stand Juratovic beim Automobilbauer Audi als Lackierer am Fließband. Später wurde er Betriebsrat. Heute ist Josip Juratovic Bundestagsabgeordneter. Seit 2005 sitzt er für die SPD im Parlament in Berlin.
Eine Ausnahme - das betont der gelernte Kfz-Mechaniker immer wieder. "Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen in den Bundestag kommen, die das Leben unterhalb der Wohlstandsgrenze kennen. Menschen, die jeden Tag um ihr Dasein kämpfen müssen", sagt Juratovic im Gespräch mit der DW.
87 Prozent Akademiker
Bis heute sei seine Herkunft aus einem Betrieb prägend für seine politische Arbeit. "Ich weiß, was in meinem Stand für eine Meinung über Politik vorherrscht und welche Erwartungen diese Menschen an die Politik haben. Ich kann in einer einfachen Art und Weise komplexe politische Dinge zum Ausdruck bringen und bin glaubwürdig." Für Abgeordnete sei es wichtig, die Lebenssituation der Menschen zu kennen, für die sie Gesetze machen oder Rahmenbedingungen schaffen.
Ein Leben als Arbeiter und Geringverdiener haben die wenigsten Bundestagsabgeordneten geführt. Im frisch gewählten Parlament sitzen 87 Prozent Akademiker. Es gibt viele Rechtsanwälte und Steuerberater. Andere Abgeordnete haben in politischen und gesellschaftlichen Organisationen gearbeitet, als Beamte oder als wissenschaftliche Mitarbeiter im Bundestag, bevor sie selbst für das Parlament kandidiert haben.
Einseitige Lebenserfahrung
Repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ist das nicht. Zwischen 14 und 15 Prozent der Bundesbürger sind Akademiker, die Mehrheit hat nach der Schule eine Berufsausbildung gemacht. "Die im Bundestag vertretene Lebenserfahrung ist ein bisschen einseitig", klagt Josip Juratovic.
Die Kritik an der hohen Akademikerquote im Bundestag ist nicht neu. Schon in den Anfangsjahren des Parlaments hatte fast jeder zweite Abgeordnete einen Hochschulabschluss. Da Mitte der 1960er-Jahre nur rund drei Prozent der Deutschen studiert hatten, gab es bezogen auf die Gesamtbevölkerung damals sogar noch mehr Akademiker im Bundestag als heute.
Der Bundestag ist kein Spiegelbild der Bevölkerung
Daniel Hellmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Parlamentarismusforschung bei der Stiftung Wissenschaft und Demokratie, sieht darin grundsätzlich kein Problem. "Wenn ich jemanden suche, der meine Interessen repräsentiert, würde ich in erster Linie nicht danach schauen, welchen Beruf er hat, sondern in welcher Partei er ist." Er als Akademiker würde sich nicht nur von einem Akademiker im Bundestag gut vertreten fühlen, betont Hellmann. "Das hängt doch davon ab, ob er meine politischen Positionen teilt."
Diese Meinung vertritt auch der bisherige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. In der ersten Sitzung des neu gewählten Bundestags warnte er, "Repräsentation mit Repräsentativität" gleich zu setzen. "Jeder Einzelne von uns bildet nicht einfach einen Teil des Volkes ab. Auch wenn sich die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft in der Volksvertretung wiederfinden soll: Der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung sein."
Wer setzt sich für wessen Interessen ein?
Als Parlamentarier müsse sich eine Juristin aus der Finanzverwaltung mit Fragen der Landwirtschaft vertraut machen, ein Handwerksmeister Entscheidungen über eine Pflegereform treffen, so Schäuble. Der Bundestag bündele Interessen und trage damit Verantwortung für den Zusammenhalt des Landes. "Deshalb sollten wir uns immer wieder selbst hinterfragen, ob wir, ob unsere Parteien der Vielfalt an Interessen und Meinungen genügend Gehör verschaffen."
Doch stimmt das mit der Wirklichkeit überein? Eine wissenschaftliche Studie der Universitäten Konstanz, Basel, Genf und Stuttgart kam Anfang 2021 zu dem Ergebnis, dass ein divers besetztes Parlament durchaus zu einer besseren Repräsentation der Wählerinteressen führt. Das liege daran, dass sich Bundestagsabgeordnete, die einer zahlenmäßigen Minderheit im Parlament angehören, zu Beginn ihres Mandats politisch oft besonders für ihre Gruppen einsetzen würden. Das sei schließlich häufig auch eines der Auswahlkriterien in der Partei für die Kandidatur gewesen.
Karriere macht man nicht mit Minderheiten-Themen
Ein Verhalten, das laut der Studie vier bis acht Jahre anhält. "Wer sich darauf reduzieren lässt, nur die Belange von Frauen, Migranten oder jungen Menschen zu vertreten, der findet sich nach einigen Jahren schnell in einer Schublade wieder", schreibt Stefanie Bailer, eine der Autorinnen der Studie. Spätere Karrierephasen erforderten dagegen fachliche Expertise außerhalb von Gruppeninteressen.
"Die interessante Frage ist, wer den Themen der wenig repräsentierten Gruppen treu bleibt, und wer sich stattdessen politisch bedeutsameren Querschnitts- und Macht-Themen zuwendet, etwa Finanz- oder Außenpolitik", schreibt Bailer. Eine Ausnahme gebe es bei Frauen, die sich auch in späteren Jahren ihrer politischen Karriere oft für die Gleichstellung einsetzen würden.
Für gering Gebildete ist es schwer, ein Mandat zu bekommen
Der Bundestagsabgeordnete Josip Juratovic beschäftigt sich nicht nur mit sozialen Themen, aber sie sind ihm nach wie vor besonders wichtig. Auch wenn er oft Gegenwind bekommt. "Ich erlebe häufig, dass jemand sagt: Du mit deinen Arbeitern, die gibt es doch gar nicht mehr und die es noch gibt, die wählen doch nicht die SPD." Juratovic würde sich auch deswegen wünschen, dass mehr Menschen "aus seinem Stand", wie er es formuliert, den Weg in die Politik finden würden.
Dass das nicht so einfach ist, hat er selbst erfahren müssen. "Als ich das erste Mal kandidiert habe, hatte ich sowohl vom Akzent her als auch grammatikalisch eine schreckliche Ausdrucksweise", erinnert er sich. "Ich bin dann gefragt worden: Wie willst du dich behaupten neben einem eloquenten Rechtsanwalt? Was traust du dir zu?" Für Akademiker sei es einfacher, in die Politik zu gehen, sagt Juratovic. "Schon von der Sprache her und weil sie gelernt haben, strukturiert zu arbeiten."
Schichtarbeiter haben keine Zeit für Politik
Für den Politologen Daniel Hellmann gibt es noch ein paar andere Gründe, warum bestimmte Berufsgruppen den Zugang zur Politik leichter finden. Wer selbständig oder im wissenschaftlichen Betrieb arbeite, habe meistens eine flexible Tageseinteilung und damit mehr verfügbare Zeit, um ehrenamtlich Politik zu betreiben. "Sie können Parteiveranstaltungen besuchen und sich so bekannt machen und die Netzwerke aufbauen, die nötig sind, um von der Partei für die Wahl aufgestellt zu werden."
Josip Juratovic sieht die Parteien in der Pflicht, ihren politischen Nachwuchs diverser auszuwählen. Dafür müsse man auch Überzeugungsarbeit leisten. "Viele aus meinem Stand sind der Meinung, das ist unerreichbar, das kriege ich nicht hin, das ist nur was für Akademiker, oder die Reichen." Er ermuntere die Menschen dann und sage: "Trau dich, du kannst das", erzählt Juratovic. "Wenn man etwas zu sagen hat, ist es egal, ob man mit Akzent spricht oder welche Worte man benutzt. Wenn man etwas zu sagen hat, bekommt man auch Gehör, davon bin ich überzeugt."