Bila Voda - ein dunkles Kapitel der tschechischen Geschichte
5. Mai 2023Ein endloses Gräberfeld wie auf einem Soldatenfriedhof. Einfache Grabsteine, schwarze schmiedeeiserne Kreuze und kleine Gedenktafeln, so weit das Auge reicht. Mehr als siebenhundert Gräber, nebeneinander, dicht an dicht. Hier, auf dem Friedhof von Bila Voda sind 750 Nonnen beerdigt. Sie wurden in der Zeit des Kommunismus hierher verschleppt, in den abgelegensten Winkel der damaligen Tschechoslowakei.
Bila Voda, heute ein Dorf mit etwa dreihundert Einwohnern, ist auf drei Seiten vom ehemals preußischen, heute polnischen Schlesien umgeben. Es liegt auf der Landzunge Javornik, die durch die Grenzverschiebung nach den preußisch-österreichischen Kriegen im 18. Jahrhundert künstlich geschaffen wurde.
Hartes Leben in der Isolation
Ausgerechnet hierher wurden die Nonnen gebracht, nachdem ihre Klöster im Jahr 1950 auf Geheiß des tschechoslowakischen Regimes in Prag geschlossen worden waren. Im Rahmen der gegen die katholischen Kirche gerichteten "Aktion R" wurden mehr als 1000 Nonnen aus 14 Klöstern in ein "Zentralisationskloster" gebracht, in größtmöglicher Isolation. So entstand in dieser fast geschlossenen Enklave die größte Nonnengemeinschaft in Europa.
Die Bedingungen in Bila Voda waren sehr hart. Im Jahr 1950 war das Dorf ein fast menschenleerer Ort, aus dem die einheimische deutsche Bevölkerung nach 1945 auf der Grundlage der Benes-Dekrete vertrieben worden war.
Den Schwestern war es verboten, das abgelegene Dorf zu verlassen, sie pflegten Patienten in der dortigen psychiatrischen Klinik oder arbeiteten im örtlichen Landwirtschaftsbetrieb. Die große Mehrheit von ihnen starb in Bila Voda. Der Friedhof, auf dem sie beerdigt sind, ist die größte derartige Begräbnisstätte der Welt.
Ein umstrittener Roman macht Bila Voda bekannt
Ein großer Teil der Tschechen kennt heute Bila Voda und die Geschichte der dorthin verschleppten Nonnen. Selbst diejenigen, die nicht religiös sind und sich früher nicht für die Verfolgung der katholischen Kirche und der religiösen Orden in der kommunistischen Tschechoslowakei interessiert hatten, wurden mit dem Thema konfrontiert. Grund dafür ist der Roman "Bila Voda" von Katerina Tuckova, der mit mehr als 100.000 verkauften Exemplaren zum meistverkauften Buch der vergangenen Jahre wurde. Die 42-jährige Autorin erhielt dafür im Jahr 2022 den Staatspreis, die wichtigste tschechische Kulturauszeichnung.
Doch der Roman ist nicht unumstritten. Denn er scheint auf den ersten Blick ein authentischer historischer Bericht zu sein, einschließlich der darin enthaltenen angeblichen Dokumente der kommunistischen Staatssicherheit. In der Tat beschreibt Tuckova die Ereignisse in ihrem Buch auf der Grundlage realer Begebenheiten, aber sie hält sich nicht an die Realität. "Auf die Kritik an der Geschichtsverbiegung kann ich natürlich mit dem Hinweis antworten, dass es sich um einen Roman und nicht um ein Sachbuch handelt", sagte sie der Wochenzeitung Respekt. Als Autorin eines fiktiven Werks habe sie einen legitimen Anspruch darauf, historische Realitäten in der fiktiven Welt, die sie erschaffe, so zu behandeln, wie es ihr gefalle. "Ich denke, dass das, worauf ich bei meinen Recherchen zu den Themen gekommen bin, keine Geschichtsverfälschung ist", fügte sie in dem Interview hinzu.
Das Phänomen Bila Voda
Die Resonanz auf das Buch war so groß, dass die Katholisch-Theologische Fakultät der Karls-Universität in Prag eine internationale Konferenz über das Buch mit dem Titel "Das Phänomen Bila Voda" veranstaltete. Führende Theologen, Kirchenhistoriker und Literaturexperten diskutierten darüber, wie man einem Werk begegnen könne, das oft die historischen Fakten außer Acht lasse, aber dennoch viele Leser finde. Als problematisch empfanden viele Konferenzteilnehmer vor allem die falsche Darstellung der Aktivitäten der Staatssicherheit.
"Vielleicht irritiert es uns, dass nicht wir mit unseren Fachartikeln eine breite Leserschaft erreicht haben, sondern dass dies Katerina Tuckova mit einem Buch gelungen ist, das man normalerweise an jeder Tankstelle kaufen kann", räumte der Kirchenhistoriker Marek Smid ein.
Kontroverse Geschichten einer jungen Autorin
Umstritten ist auch Tuckovas Schilderung der Priesterweihe einer der Nonnen. Inspiriert wurde sie von der Geschichte der heimlich geweihten Theologin Ludmila Javorova. Sie war eine von fünf in der tschechischen Untergrundkirche zu Priesterinnen geweihten Frauen. Ihre Weihe wurde jedoch nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft vom Vatikan nicht anerkannt. "In der Realität ist alles anders als in Katerina Tuckovas Roman", urteilt die Prager Theologin Mireia Ryskova. "Ich bin überzeugt, dass die Frage der Frauenordination eines der Zeichen der Zeit ist. Meiner Meinung nach hätte man dieses Thema schon früher positiv angehen müssen." Es sei Tuckovas Verdienst, dass sie mit ihrem Roman in der breiten Öffentlichkeit Interesse für die Geschichte der katholischen Kirche unter dem Kommunismus geweckt habe.
Es ist nicht das erste Mal, dass Tuckova mit einem Roman Aufsehen erregt. Im Jahr 2010 hatte sie ein Buch über eine junge Deutsche aus Brünn geschrieben, die 1945 auf einem Todesmarsch aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Unter dem Namen "Gerta. Das deutsche Mädchen" erschien der Roman auch auf Deutsch. In Tschechien wurde er kontrovers aufgenommen, da er das tabuisierte Thema der Vertreibung der Deutschen aufgriff und einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte.
Zurück in Bila Voda
Obwohl seit der Veröffentlichung ihres neuen Buches viele Touristen in das kleine Bila Voda kommen, ist davon im Dorf selbst nicht viel zu spüren. Das kleine Museum über die Internierung der Nonnen ist an Wochenenden geschlossen, die Klosterkirche ebenfalls. Der einzige Hinweis auf den Tourismus ist das zweisprachige tschechisch-polnische Schild an der örtlichen Kneipe: "Verkauf von alkoholischen Getränken an alkoholisierte Personen verboten." Und ein weiteres, auf dem steht: "Bezahlung in bar - Kronen, Zloty, Euro".
Gepflegt wirkt der Friedhof mit einer Marmortafel am Eingang, die besagt, dass es sich um ein geschütztes Kulturdenkmal mit den Grabsteinen der internierten Nonnen handele. Der Ort hat eine mystische Atmosphäre. Neben den Grabsteinen der Schwestern sind Rosenstöcke gepflanzt. Für jeden der Orden, denen die hierher verschleppten Nonnen angehörten, gibt es Rosen in einer anderen Farbe.
Selbst nach dem Ende des Kommunismus, als sie endlich frei waren, zogen sich die Nonnen nicht völlig zurück. Sie betreuen noch immer Patienten in der psychiatrischen Klinik und betreiben ein Gästehaus. Mehrere neu errichtete Ordenshäuser zeugen davon, dass die örtliche Ordensgemeinschaft hier noch lebendig ist, wenn auch mit einer viel geringeren Zahl von Schwestern.