"Ich halte nichts von kollektiver Schuld"
19. März 2019Kateřina Tučková wurde 1980 in Brünn geboren, studierte Kunstgeschichte, Literatur- und Sprachwissenschaften. Sie ist als Kuratorin, Sachbuchautorin und Schriftstellerin tätig. 2010 erhielt sie den wichtigsten Literaturpreis Tschechiens, den Magnesia Litera, für "Vyhnání Gerty Schnirch (Die Vertreibung der Gerta Schnirch)". Im November ist das Buch auch auf Deutsch erschienen, unter dem Titel "Gerta. Das deutsche Mädchen" (Klak Verlag).
Gerta wächst in der zweisprachigen Familie Schnirch im mährischen Brünn auf. Die Mutter ist Tschechin, der Vater Deutscher. Kein Problem, bis die Tschechoslowakei 1938 ihre Souveränität verliert und ins Deutsche Reich eingegliedert wird. Jetzt zerfällt die Familie - wie das gesamte Land - in einen tschechischen und einen deutschen Teil. Während Gerta und ihre Mutter den Nationalsozialisten distanziert gegenüberstehen, werden Vater und Sohn zu glühenden Anhängern Hitlers.
Kateřina Tučková begleitet Gerta durch die Kriegsjahre, erzählt von ihrer frühen ungewollten Schwangerschaft, dem Tod der Mutter und der traumatischen Vertreibung aus Brünn Ende Mai 1945, einem historisch belegten Todesmarsch, bei dem wohl mindestens 2000, möglicherweise sogar mehr als 5000 Menschen ums Leben kamen - Alte, Frauen, Kranke und Kinder. Der Hass vieler Tschechen auf die deutschsprachige Bevölkerung hat sich hier brutal entladen. Gerta und ihre Tochter überleben, aber bleiben stigmatisiert - zunächst bei der Zwangsarbeit auf dem Land, Jahre später am Rande der Gesellschaft in der nun kommunistischen Tschechoslowakei.
Deutsche Welle: Frau Tučková, Sie wurden 1980 geboren, lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Woher rührt Ihr Interesse für diese Zeit?
Kateřina Tučková: Ich wurde in Brünn geboren, bin hier zur Schule gegangen und habe hier auch studiert. Aber in all diesen Jahren habe ich nichts gewusst und auch nichts über die gemeinsame tschechisch-jüdisch-deutsche Geschichte gelernt. Als ich dann meine erste eigene Wohnung bezogen habe, bin ich jeden Tag an einer Inschrift an einer alten Fassade vorbeigelaufen: "Mährische Glas- und Spiegelindustrie". Und weil ich gar nichts über die Anwesenheit von Deutschen in meiner Stadt wusste, wurde ich neugierig. Warum stand das da noch im Jahr 2002, 2003? Und warum sind keine Deutschen mehr da? Was ist passiert?
Also wussten Sie auch nichts von dem Todesmarsch im Jahr 1945?
Als ich anfing, mich für das Thema zu interessieren, wusste ich nichts über den Brünner Todesmarsch. Und ich nehme an, dass auch keiner von meinen Kommilitonen aus der Uni oder andere Leute etwas darüber wussten. Vielleicht haben sich Ältere daran erinnert, dass Brünn vor und während des Zweiten Weltkriegs voller Deutscher und auch voller Juden war, denn mehr als 25 Prozent der Einwohner Brünns waren Deutsche oder deutschsprechende Juden. Also, vielleicht wussten Ältere das. Aber natürlich haben sie nicht so gerne darüber gesprochen, denn der Brünner Todesmarsch ist berühmt-berüchtigt für seine Grausamkeit. Das ist kein Thema, über das man gerne offen spricht.
Das Buch, das Sie geschrieben haben, ist ein Roman. Aber Sie haben viel recherchiert. Wie realistisch ist "Gerta. Das deutsche Mädchen"?
Nachdem ich auf das Thema gestoßen bin, habe ich drei Jahre recherchiert. Ich habe Material aus den 1990er Jahren gelesen, von Historikertreffen zum Beispiel, von Konferenzen, ich war in der Bibliothek und in Archiven, das war alles kein Problem. Schwierig war es, jemanden zu finden, der das selbst erlebt hat, Augenzeugen.
Zum Glück habe ich einen Freund, der Historiker ist, der mir dabei geholfen hat, Frauen zu finden, die an dem Marsch teilnehmen mussten. Und diese Frauen waren damals, 2005/06, als ich mit meinen Recherchen begann, so nett, sehr offen mit mir zu sprechen. Sie haben mir sehr grausame, widerliche und berührende Geschichten erzählt, die ihnen und ihren Müttern oder Familienmitgliedern widerfahren sind. Das hat mich sehr betroffen gemacht und schockiert.
Dank ihnen habe ich angefangen, tschechische Geschichte aus einer absolut anderen Perspektive zu betrachten. Und so habe ich auch bemerkt, dass es während unserer Erziehung - und ich meine die Erziehung aller Kinder in Tschechien - einen blinden Fleck gab, über den nicht gesprochen wurde, der tabu war. Deshalb musste ich darüber schreiben.
Sie verfolgen Gertas Leidensweg durch viele Jahrzehnte. Und dabei stellen Sie auch die Frage nach kollektiver und persönlicher Schuld von Tschechen und Deutschen. Wer muss denn wegen der Sünden der Väter leiden?
Die Fehler der Väter, das ist wirklich eine schreckliche Frage. Ich halte nichts von kollektiver Schuld, denn wenn ich die Geschichte von Menschen wie Gerta nehme, von Menschen, die an so einer großen Sache wie diesem Krieg überhaupt nicht beteiligt waren, dann ist es absolut inakzeptabel und sehr grausam, dass die kollektive Schuld das Leben so vieler Menschen zerstört hat.
Es ist wirklich schwierig, zu benennen, wer schuldig war, wer einen Anteil hatte an dem, was am Ende des Krieges geschehen ist. Ich kann verstehen, dass die Menschen sehr aufgebracht waren, frustriert, und dass sie etwas brauchten, um diese Frustration zu kanalisieren. Aber das, was passiert ist, kann ich nicht akzeptieren. Dass sie nicht versucht haben herauszufinden, wer schuldig und wer unschuldig ist. Das ist wirklich fürchterlich. Und es war auch sehr schlimm, dass die Alliierten, die für den Krieg und das, was hier in Brünn passiert ist, die Unterdrückung der Tschechen, verantwortlich waren, dass diese Alliierten nicht mehr in der Stadt waren, als die Befreiung begann.
Ihr Buch ist in Tschechien bereits 2009 erschienen und wurde dort ein Bestseller. Hat sich seitdem irgendetwas verändert?
Ich denke, die Dinge haben sich geändert. Und ich glaube, dass das Buch dazu beigetragen hat. Wir können das Jahr 2015 nehmen, da jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Normalerweise fanden in Brünn immer Gedenkveranstaltungen für die tschechischen und jüdischen Opfer statt. Aber 2015 wurde zum ersten Mal auch an die deutschen Opfer erinnert. Und ganz besonders an die Opfer des Todesmarsches. Das ist eine große Veränderung, das gab es vor 2015 nie. Außerdem haben sich in dem Jahr der Bürgermeister der Stadt und ein Bischof bei den Opfern, die während des Todesmarsches ermordet wurden oder starben, offiziell entschuldigt. Im Namen der Stadt und der Kirche. Das war wirklich eine große symbolische Geste.
Das Gespräch führte Silke Bartlick.