Demütigung auch nach dem Tod
21. August 2013Vor Kairos zentralem Leichenschauhaus Seinhom stehen fünf Kühllaster. Die Fahrzeuge haben Leichen geladen. Dutzende, vielleicht Hunderte. Einige der Toten warten bereits seit sechs Tagen darauf, von Angehörigen abgeholt zu werden. Im Gebäude selbst ist für die Toten kein Platz. Seit dem Massaker der Polizei und der Armee an Anhängern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi am Mittwoch (14.08.2013) ist das Leichenschauhaus hoffnungslos überfüllt.
Alle paar Minuten, wenn ein Mitarbeiter den Laderaum eines Lastwagens öffnet, strömt ein stechender Verwesungsgeruch durch die enge Gasse, den weder der Gestank der meterhohen Müllberge, noch Räucherstäbchen und Duftkerzen, die Anwohner des Quartiers angezündet haben, überdecken können. "Selbst im Tod erniedrigt uns die Regierung", schimpft der Vater eines Opfers.
"Ich habe ihn kaum erkannt"
Ibrahim ist einer von fünf Jugendlichen, die am frühen Morgen aus Gizeh angereist sind, um die Leiche eines Freundes zu identifizieren. Von diesem hatte seit vergangenem Mittwoch zunächst niemand mehr etwas gehört. Freunde und Familie wussten nur, dass er an diesem Tag gemeinsam mit anderen Anhängern der Muslimbruderschaft vor der Universität in Gizeh gegen Mursis Entmachtung durch das Militär demonstriert hatte. Am Freitag bekamen die Eltern einen Anruf von der Polizei. Ihr Sohn sei festgenommen worden und werde verhört. Am Montagabend klingelte das Telefon erneut. Diesmal war ein Mitarbeiter des Leichenschauhauses am Apparat.
"Sein Körper ist durch die lange Verwesung völlig entstellt. Ich habe ihn kaum erkannt", sagt einer der Jugendlichen mit blassem Gesicht. Angeblich hätten die Mediziner die Leiche aufgeschnitten und das Herz sowie andere Organe entfernt. Zur Erklärung habe es geheißen, die Körperteile würden der medizinischen Fakultät zu "Lehrzwecken" überstellt. Die Familie des Toten sei nicht um ihre Zustimmung gebeten worden.
Staatliche Medien schweigen
Glaubt man den Berichten anderer Opferangehörigen, ist dies kein Einzelfall. Viele Familien seien erst nach Tagen über den Tod ihrer Angehörigen in Kenntnis gesetzt worden. Einige Leichen seien dermaßen entstellt, dass eine zweifelsfreie Identifizierung kaum mehr möglich sei.
Während bange Väter, Mütter und Geschwister vor dem Leichenhaus scheinbar endlose Listen mit den Namen Getöteter durchkämmen, läuft im Staatsfernsehen zum wiederholten Mal die Aufzeichnung der Beerdigungszeremonie für 25 ermordete Polizisten. Diese waren am Montag (19.08.2013) von mutmaßlichen Extremisten auf der Sinaihalbinsel erschossen worden. Die Polizisten bekommen ein Staatsbegräbnis: Ihre Särge sind mit der ägyptischen Trikolore bedeckt. Würdenträger der einflussreichen Al-Azhar-Moschee und Regierungsvertreter geben den Getöteten das letzte Geleit. Das Fernsehen spielt patriotische Hymnen dazu. Über die Leichen, die sich in Seinhom stapeln, verlieren die ägyptischen Medien kein Wort. Vergeblich sucht man in den Zeitungen nach Beiträgen über die Identität der toten Zivilisten.
Streit um Totenschein
Auch die Demütigung der Angehörigen blenden die Staatsmedien aus: Die Freunde aus Gizeh warten seit zwei Stunden darauf, den Totenschein für ihren Freund ausgestellt zu bekommen. Die Zeit drängt, der Tote müsste nach islamischem Brauch längst bestattet sein. Doch die Beamten wollen "Selbstmord" als Todesursache in den Schein eintragen - eine "dreiste Lüge", so die Freunde, die sie nicht akzeptieren wollen. Der zuständige Beamte des Leichenschauhauses möchte gegenüber der Deutschen Welle keine Stellung zu dem Vorgehen beziehen. Berichte anderer Angehöriger legen jedoch nahe, dass hinter diesem Vorgehen System steckt. Möglicherweise sollen so die offiziellen Opferzahlen niedrig gehalten werden. Menschenrechtler gehen davon aus, dass seit vergangenem Mittwoch weit mehr als die von der Regierung bestätigten Personen ums Leben gekommen sind.
Anwohner zeigen sich solidarisch
Dagegen zeigen die Anwohner des historischen, aber völlig heruntergekommenen Quartiers Saida Seinab, in dem das Leichenschauhaus liegt, Mitgefühl mit den Opferangehörigen. Der Imam einer nahen Moschee hat Freiwillige zusammengetrommelt, um die Wartenden mit Atemschutzmasken gegen den Gestank sowie mit eisgekühltem Wasser zu versorgen. Junge Männer helfen beim Transport der Särge. Andere kommen vorbei, um Trost zu spenden.
Bei einigen hat das Leid der Opferfamilien ein politisches Umdenken bewirkt. "Am 30. Juni habe ich wie so viele andere Ägypter auf dem Tahrir-Platz nach einer Rückkehr des Militärs gerufen", sagt ein älterer Mann nachdenklich: "Jetzt schäme ich mich dafür."