Decoding China: Wie Agnes Chow zum Staatsfeind wurde
8. Dezember 2023Der Hongkonger Verwaltungschef John Lee war ein Polizeibeamter und Kriminalkommissar. 30 Jahre lang diente er zuerst der Royal Police und später der Polizei in Hongkong, bevor er in die Politik wechselte. Er gewann das Vertrauen der Zentralregierung in Peking und wurde Chief Executive, wie der Regierungschef der Sonderverwaltungszone in Hongkong genannt wird.
Einem aktuellen Ermittlungsverfahren schenkt Lee nun höchstpersönlich seine Aufmerksamkeit: "Entweder stellt sich die Tatverdächtige, oder wir werden lebenslang nach ihr fahnden." Lees Ankündigung erhielt sofort Unterstützung aus Peking. Regierungssprecher Wang Wenbin sagte am Mittwoch (6.12.23): "Wir unterstützen jede Bemühung der Hongkonger Verwaltung und Justiz, ihre gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen und die Beschuldigte zu fassen."
Doch wer ist die Beschuldigte, die den Regierungschef Hongkongs und den Regierungssprecher aus Peking keine Ruhe lässt?
Staatsfeind
Die beschuldigte Agnes Chow feierte am vergangenen Wochenende ihren 27. Geburtstag, allerdings nicht in ihrer Heimatstadt Hongkong, sondern im kanadischen Toronto. Dort studiert sie seit September 2023. Auf Instagram kündigte sie an, sie werde nicht mehr nach Hongkong zurückkehren und sich dem Strafverfahren stellen. "Freiheit ohne Angst ist unbezahlbar", schrieb die Studentin. "Die Zukunft ist zwar ungewiss, aber ich muss mir keine Sorgen machen, ob ich festgenommen werde. Ich kann sagen und tun, was ich will."
Chow ist in Hongkong mit zahlreichen Strafverfahren wegen Gefährdung der Staatssicherheit und der Untergrabung des Grundsatzes "Ein Land, zwei Systeme" konfrontiert. Der Grundsatz ist eine völkerrechtliche Vereinbarung zwischen China und Großbritannien und begründet Hongkongs Sonderstellung. So ist Hongkong seit der Rückgabe der britischen Kronkolonie an China 1997 wieder Teil der Volksrepublik. Aber es gilt nach wie vor ein anderes politisches System. Diese politische Sonderstellung und die weitgehenden Bürgerrechte zu verteidigen war Chows Anliegen.
Genau das gefiel den Mächtigen in Hongkong und Peking nicht. "Sie versuchen jetzt, Chow als Präzedenzfall zu nutzen und damit andere einzuschüchtern", sagt Sophie Reiß, Chinaexpertin des Berliner Forschungsinstituts Merics.
Kampf für Direktwahlen
Chows Vita ist die Geschichte der Verteidigung des politischen Systems Hongkongs.
Schon als 17-Jährige engagierte sie sich politisch. Während der sogenannten Regenschirm-Revolution 2014 ging sie als Schülervertreterin der weiterführenden Schulen auf die Straße. Sie protestierte etwa gegen einen Beschluss der Pekinger Zentralregierung, den Hongkonger Verwaltungschef weiterhin durch ein pekingfreundliches Komitee wählen zu lassen, und nicht per Direktwahl, wie es das Grundgesetz von Hongkong vorsieht. Allerdings enthält das Basic Law keinen genauen Zeitpunkt für Direktwahlen. Die Proteste mit bis zu 200.000 Teilnehmern erreichten ihr Ziel allerdings nicht.
2016 wurde in Hongkong eine neue Partei namens "Demosisto" von jungen Aktivisten im pro-demokratischen Lager gegründet. Chow war 20 Jahre alt und wurde Vizegeneralsekretärin. Die Partei war keine reine Protestpartei. Sie verabschiedete ein Programm zu Armutsbekämpfung, Gleichstellung und Einführung von Steuern für leer stehende Wohnungen und Direktwahlen vom Verwaltungschef.
Anfang 2018 meldete sich Chow als Demosisto-Kandidatin für den Wahlkreis Hong Kong Island für die Nachwahlen des Hongkonger Legislativrats (Legco), der das gesetzgebende Organ der Sonderverwaltungszone ist. Die Nachwahlen des Stadtparlaments wurden notwendig, weil der Pekinger Volkskongress sechs demokratisch gewählte Abgeordnete ausgeschlossen hatten, die nach Ansicht Pekings den Amtseid vorsätzlich verfälscht und so die Treue zur Volksrepublik nicht geschworen haben.
Allerdings wurde die 22-jährige Agnes vom Wahlamt disqualifiziert. Sie sei keine "Patriotin", weil ihre Partei nicht "ehrlich" das Hongkonger Grundgesetz und die Verfassung der Volksrepublik unterstütze. Dabei hatte Chow sich durch ihre Unterschrift im Antrag schriftlich zur chinesischen Verfassung bekannt. Ihre Anfechtung der Entscheidung war zwar erfolgreich, kam aber zu spät. Sie verpasste den Einzug ins Parlament.
Nein zum Strafverfahren auf dem Festland
2019 wollte der Legco die Hongkonger Strafprozessordnung modifizieren und es möglich machen, Tatverdächtige an die Justiz des Festlands auszuliefern. Hunderttausende protestierten monatelang gegen den Gesetzesentwurf. Die Polizei ging hart gegen die Teilnehmer vor. Aufgrund zunehmender Polizeigewalt gegen friedliche Demonstrationen forderten die Anführer, unter ihnen Joshua Wong und Agnes Chow, die Menschen am 12. Juni 2019 zur Belagerung des Polizeipräsidiums auf. Dem Aufruf folgten mehrere Tausende Aktivisten.
Zwei Monate später wurde Chow von der Polizei wegen "Anstiftung zur Teilnahme an illegalen Versammlungen" festgenommen. Sie bekannte sich schuldig. Ein Gericht in Hongkong verurteilte sie im Dezember 2020 zu zehn Monate Freiheitsstrafe. Insgesamt sechs Monate und 20 Tage musste sie absitzen. Als sie 2020 das Hochsicherheitsgefängnis "Tai Lam Centre for Women" Hongkong verließ, wurde sie von Wartenden wie eine Heldin gefeiert.
Der Gesetzesentwurf wurde lautlos zurückgezogen.
Peking zeigt Muskeln
Doch der Erfolg war nur ein Aufschub. 2020 billigte der Pekinger Volkskongress das "Sicherheitsgesetz für Hongkong". Der Vorgang war bemerkenswert, weil Peking nun auch die Gesetzgebung für die Sonderverwaltungszone beanspruchte und damit den bisher geltenden Grundsatz "Verwaltung Hongkongs durch Hongkonger" offensichtlich verletzte. Das Gesetz stellt "Abspaltung", "Subversion", "terroristische Aktivitäten" und die "Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten zur Gefährdung der nationalen Sicherheit" unter Strafe.
Noch am selben Tag kündigte Chow ihren Rücktritt aus der Demosisto-Partei an. Noch am selben Tag wurde Demosisto aufgelöst.
Das Sicherheitsgesetz war der entscheidende Schritt zur Beendigung der Idee von "Ein Land, zwei Systeme", schreibt Moritz Rudolf von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Mit dem Sicherheitsgesetz schafft die chinesische Führung nun Tatsachen. Der Schritt geht zulasten individueller Freiheitsrechte und beschleunigt die Verbreitung sozia¬listischer Rechtsvorstellungen in Hongkong."
Der Fall von Agnes Chow erhalte eine außergewöhnliche Resonanz, weil eine junge Aktivistin die Zentralregierung gewissermaßen vorgeführt habe, sagt Chinaexpertin Reiß der DW. "Sie zieht internationale Aufmerksamkeit auf ihren Fall und auch auf die Situation in Hongkong unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz, was insgesamt weder in Hongkong noch in Peking gut ankommen dürfte."
Düstere Zukunft
Chow wurde im August 2020 erneut von der Polizei festgenommen. Sie wurde beschuldigt, "über soziale Medien mit ausländischen Mächten feindselige Aktivitäten" unternommen zu haben. Als Beweis wurde ihre Forderung nach Sanktionsmaßnahmen gegen Hongkong genannt. All das soll nach dem Inkrafttreten des Sicherheitsgesetzes passiert sein.
Gegen eine Kaution in Höhe von umgerechnet 3.000 Euro und einer persönlichen Bürgschaft von 27.000 Euro kam sie wieder frei. Jetzt bleibt sie in Kanada. Als Grund nennt sie die immer massivere Unterdrückung in Hongkong, die auch Reiß gegenüber der DW bestätigt: "Durch Gesetze, Gerichtsverfahren und auch persönliche Repressalien werden Aktivisten unter Druck gesetzt", sagt Reiß. "Teilweise auch diejenigen, die sich im Ausland engagieren. Durch Einschüchterung, Gesetzesänderungen und institutionelle Benachteiligung wird die Demokratiebewegung in Hongkong weitgehend unterdrückt. Momentan ist nicht abzusehen, dass sich die Situation diesbezüglich in absehbarer Zukunft verbessert."
Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.