1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Uralte Debatte um Zeitumstellung begann mit Scherz

26. Oktober 2023

Am Wochenende wird die Zeit wieder umgestellt. Dabei hatten bereits vor 5 Jahren 84 Prozent der EU-Bürger für die Abschaffung gestimmt. Der Vorschlag kam von Langschläfer Benjamin Franklin vor 240 Jahren – aber als Witz!

https://p.dw.com/p/344m8
Mann bewegt Zeiger an einem riesigen Zifferblatt
Befürworter und Gegner streiten seit Jahrzehnten über Vor- und Nachteile der Zeitumstellung Bild: picture-alliance/ZUMA Wire/D. Oliveira

Veränderungen in der Europäischen Union brauchen bekanntlich viel Zeit. Das gilt erst recht für so etwas Bedeutendes wie die Zeit-Umstellung. In einer Online-Umfrage der EU-Kommission hatten 2018 immerhin 84 Prozent für eine Abschaffung der Zeitumstellung gestimmt. In Deutschland nahmen knapp 3,8 Prozent der Bevölkerung an der Umfrage teil, was europaweit die höchste Beteiligung darstellte. Geschehen ist seitdem nicht viel.

Die Einführung einer Sommerzeit hatte 1784 der Gründungsvater der USA, Langschläfer Benjamin Franklin vorgeschlagen – allerdings nur aus Spaß. Und seit mehr als zwei Jahrhunderten wird über deren Sinn und Unsinn gestritten.

Die Entdeckung der Morgensonne

Alles begann mit einem Witz: Der Erfinder Benjamin Franklin war ein Langschläfer. Als amerikanischer Delegierter hatte er die Franzosen als Verbündete im Kampf gegen die Briten gewinnen können. Seit acht Jahren lebte er schon in Paris und hüben wie drüben feierte man seinen wachen Geist und sein Verhandlungsgeschick – und seinen Sinn für Humor. Man liebte seine satirischen Texte, die er für das Journal de Paris schrieb.

Da Franklin gerne bis in die frühen Morgenstunden Schach spielte, schlief er selber meistens bis Mittag. In dem 1784 veröffentlichten Artikel "An Economical Project for Diminishing the Cost of Light"

beschreibt Franklin, dass er zufällig einmal um 6 Uhr morgens wach geworden sei und mit großem Erstaunen entdeckt habe, dass "die Sonne frühmorgens bereits schien". Niemand wolle ihm in Paris seine erstaunliche Entdeckung glauben, obwohl er es mehrmals geprüft habe. Aber er selber habe die Morgensonne mit eigenen Augen gesehen, versicherte Franklin. 

Drastische Sparmöglichkeiten - und Maßnahmen

Ganz Wissenschaftler errechnete er auch gleich, wie viele Kerzen und wie viel Lampenöl man sparen könne, wenn man die Zeit umstellen würde: Wenn 100.000 Pariser Haushalte in der Sommerzeit sieben Stunden lang Kerzen brennen ließen, könnte man rund 64 Millionen Pfund Wachs einsparen.

Da die Pariser aber bekanntlich nur ungerne ihre Gewohnheiten ändern und früher aufstehen, müsse man eben zu drastischen Maßnahmen greifen. Deshalb sollte Paris künftig Fensterläden besteuern, Kerzen rationieren und die Bevölkerung morgens mit Kanonendonner wecken.

Ein Witz wie gesagt, den die Franzosen sehr amüsant fanden. Aber die vorgeschlagene Zeitumstellung geriet in Vergessenheit. Erst einhundert Jahre später schlugen zwei Wissenschaftler unabhängig voneinander eine saisonale Zeitverschiebung vor: 1895 der neuseeländische Insektenkundler und Astronom George Vernon Hudson und 1907 der britische Erfinder William Willett. Auch sie errechneten minutiös, wie viele Beleuchtungskosten mit der Zeitumstellung eingespart werden könnten.

Ein Scherz wird bitterer Ernst

Begeistert von der Idee war eigentlich nur Winston Churchill, aber die Sommerzeit konnte sich in Großbritannien nicht durchzusetzen - noch nicht. Erst als Deutschland und Österreich-Ungarn 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg überraschend die Sommerzeit einführten, zogen die Kriegsgegner Großbritannien und Frankreich sowie andere europäische Länder nach. Durch Energieeinsparungen an den “künstlichen“ Sommerabenden sollten die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs unterstützt werden.

Die ersten Panzer C Company auf dem Schlachtfeld
Energiesparen sollte helfen, die Materialschlachten des ersten Weltkrieges zu finanzieren.Bild: picture-alliance/Mary Evans/Robert Hunt Collectio

Als der Krieg verloren war, schaffte Deutschland 1919 auch das unbeliebte Kriegsrelikt wieder ab. In Frankreich konnten protestierende Bauern erreichen, dass die Sommerzeit 1922 abgeschafft wurde. Allerdings wurde die Zeitumstellung 1923 dann gleich wieder eingeführt. Großbritannien dagegen hielt als einziges Land kontinuierlich an der Sommerzeit fest. 

Zeitumstellung in Kriegszeiten

Mit erneutem Kriegsbeginn erinnerte sich Deutschland an den Energieeinspargedanken und führte 1940 die Sommerzeit wieder ein. Auch in den besetzten Gebieten hatte die Berliner Zeitrechnung zu gelten. Bei der Sommerzeit blieb es auch, als Deutschland abermals den Krieg verloren hatte.

Mit Kriegsende verabschiedeten sich viele europäische Staaten von der Sommerzeit; in Deutschland wurde die alljährliche Zeitumstellung dann im Gründungsjahr der beiden deutschen Staaten abgeschafft, darauf verständigten sich Ost und West 1949 in seltener Einigkeit.

Europäischer Flickenteppich

In den Wirtschaftswunderjahren war von Energieeinsparungen und entsprechend auch von einer Zeitumstellung keine Rede mehr. Erst als der Öl-Schock 1973 Europa in eine tiefe Krise stürzte und Fahrverbote verhängt wurden, erinnerte man sich.

Umgesetzt wurde die Zeitumstellung zunächst allerdings nur in Frankreich, das als einziges westeuropäisches Land 1976 die Sommerzeit wieder einführte. Nach einer Weile folgten andere europäische Staaten.

Die westdeutsche Bundesrepublik aber zögerte, schließlich sollte die Teilung nicht auch noch durch unterschiedliche Zeitzonen vertieft werden. 1979 überraschte die DDR den Westen und verkündete für das Folgejahr die Einführung einer Sommerzeit an. Ab 1980 galt die Zeitumstellung dann in beiden deutschen Staaten. Viele Nachbarländer zogen nach.

Infografik Sonnenuntergang Sommerzeit Europa DE

Die unterschiedlichen Sommerzeitregelungen wurden 1996 innerhalb der Europäischen Union vereinheitlicht, seitdem gilt die Zeitumstellung in allen EU-Mitgliedstaaten (außer den Überseegebieten) für rund 512 Millionen EU-Bürger und für Millionen Nachbarn in Europa.

Jahrzehntelange Debatte über Sinn oder Unsinn

Befürworter und Gegner halten sich seit jeher mit Belegen über wirtschaftliche oder gesundheitliche Vorteile oder Schäden wechselseitig in Schach.

Nach dem überraschend klaren Votum einer EU-weiten Online-Umfrage 2018 rät die EU-Kommission nun wieder, die ungeliebte Zeitumstellung endgültig abzuschaffen. Debattiert wird weiterhin.

Hätte Franklin erfahren, welche Turbulenzen seine Satire ausgelöst hat, er hätte wohl seine helle Freude gehabt.

 

Der Artikel von 2018 wurde am 26.10.2023 umfassend überarbeitet

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund