Das tödliche Geschäft afghanischer Schlepper
4. November 2015Eigentlich haben sie alles, was sie brauchen: ein relativ gutes Einkommen, ein schönes Haus und eine glückliche Familie. Aber all das kann Familienvater Haji Qasem Mohammadi nicht über seinen Verlust hinwegtrösten. Eines Tages wachte er auf und sein Sohn war nicht mehr da.
"Er ist ohne unsere Erlaubnis einfach davon", klagt der besorgte Vater. Haji Qasem Mohammadis Augen blicken in die Ferne. Seine Stirn ist in Falten gelegt. Vor etwa zwei Monaten reiste sein Sohn, der 16-jährige Hussain, in den Iran, angeblich um ein paar Tage Urlaub zu machen. Seitdem ist er nicht mehr zurückgekehrt. "Wir sorgen uns sehr und sind psychisch am Ende. Nachts muss ich immerzu an ihn denken“, sagt Mohammadi.
"Ein Schlepper hat ihm das Blaue vom Himmel erzählt und er ist darauf reingefallen", berichtet der Vater. Ein gutes Einkommen, Sicherheit, Luxus und Parties - all das würde Hussain bekommen, wenn er bereit wäre zu zahlen. Die Reise gehe ganz schnell und er würde sofort aufgenommen werden, erzählten ihm die Schleuser. Hussain zahlte Tausende Euro, kam erst in die Türkei, dann nach Griechenland und schließlich über den Balkan nach Deutschland. Es ist die gängigste Route für Flüchtlinge, die nach Deutschland wollen.
Hochprofessionell nutzen internationale Schlepper-Netzwerke diese Route für eigene Profite, das gab der deutsche Auslandsgeheimdienst BND in dieser Woche bekannt. Die Bundespolizei führte Razzien in den Bundesländern Nordrhein-Westphalen, Niedersachsen und Baden-Württemberg durch, um die Netzwerke zu zerschlagen. Als sogenannte "Push-Faktoren", die Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen, nannte BND-Präsident Gerhard Schindler die schlechte Sicherheitslage und die rückläufige Wirtschaft in Afghanistan.
Auseinandergerissene Familien
Im Vergleich zu vielen anderen Familien im afghanischen Herat, im Westen des Landes, hat die neunköpfige Familie Hammadi ein relativ gutes Leben. Dennoch machte sich auch eine Tochter der Familie vor kurzem mit ihrem Mann auf den Weg in die Fremde. Ihr Weggang vergrößert den Schmerz nach dem Weggang des Sohnes.
"In den ersten Wochen habe ich gar nicht mit Hussain reden wollen", erzählt der Vater. Schließlich reichte ihm die Mutter das Telefon und sagt, er solle endlich etwas sagen, jetzt sei es nun einmal geschehen. "Ich fragte ihn also: 'Jetzt, wo du in Deutschland bist, was denkst du?'" Haji Qasem Mohammadi hält kurz inne. Dann spricht er leise weiter: "Hussain antwortete mir, dass er es bereut." Von den großen Versprechungen der Schlepper erfüllte sich keine. Hussain lebt mit vielen anderen Flüchtlingen in einem Asylheim. Er hofft, dass er bleiben kann.
In diesen Tagen läuft der Menschenschmuggel in Afghanistan besonders gut. Viele Afghanen verkaufen ihr gesamtes Hab und Gut, sie nutzen Ländereien und all ihr Erspartes, um die ungewisse Reise bezahlen zu können. Für viel Geld werden auch offizielle Visa für die Türkei angeboten. Von dort versucht man, sich bis in die EU durchzuschlagen. Wer es sich leisten kann, mehrere 10.000 Euro zu zahlen, lässt sich sogar direkt nach Deutschland einfliegen. Keinem kommt offenbar in den Sinn, dass er dort angekommen auch wieder zurück geschickt werden könnte. Täglich verlassen Tausende Afghanen das Land.
In Deutschland "kein Platz für uns"
Auch Haji Qasem Mohammadi möchte seinem Sohn nachreisen. Zu groß ist die Sehnsucht nach seinem Jungen. Als er weg sei, habe er eine große Leere hinterlassen. Die Schmuggler bieten dem Vater Hilfe beim Verkauf seines Hauses an.
"Ich habe meinen Sohn dann angerufen und ihm von meinem Plan erzählt", berichtet Mohammadi. "Er sagte zu mir, auch wenn sie ein Flugzeug neben meinem Haus parken würden und mich direkt nach Deutschland bringen würden, sollte ich es auf keinen Fall tun. In Deutschland sei einfach kein Platz für uns."
Der junge Hussain ist selbst nicht glücklich über seine neue Heimat. Am Telefon sagt er seinen Eltern, dass er großes Heimweh habe. Er will versuchen, einen Schulabschluss zu machen und Geld zu verdienen, damit er zurück kommen kann. Deutschland, so der Jugendliche, habe er sich anders vorgestellt.
Gefährliche Reise auf dem Boot
Mehr als 800.000 Migranten und Flüchtlinge haben dieses Jahr die schwierige Reise nach Europa auf sich genommen, um Asyl zu beantragen. Die meisten von ihnen kommen aus Syrien oder Afghanistan. Nach Angaben der UN sind über 3000 Menschen auf der Bootsfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken oder verschwunden.
Auch Mohebullah Rezai aus Kabul verlor auf diesem Weg seine Frau und eine Tochter. Zusammen mit seinem Schwager, dessen Frau und Kindern, wollten sie von der Türkei aus nach Deutschland fliehen. Heute bereut er das.
"Kein Afghane sollte diese riskante Reise wagen", sagt Rezai. "Uns hat man erzählt, es bestehe keine Gefahr und es wäre ganz einfach. Der Schlepper hat das ganze Bargeld genommen. Von da an konnten wir nur noch warten. Erst haben sie uns stundenlang im Wald warten lassen, anschließend sollten wir zu acht in einem kleinen Zimmer schlafen. Wir waren sehr müde, als wir schließlich abgeholt wurden."
Das Holzboot war schon völlig überfüllt, als Rezai und seine Familie abgeladen wurden. Ein syrischer Kapitän steuerte das wacklige Gefährt auf dem Meer. Einmal mussten sie umdrehen, weil sie sich verfahren hatten. Dann geschah das Unglück: Das Boot brach unter der Last der vielen Menschen auseinander. Dutzende Menschen starben.
Deutschland klärt auf
Um weitere Unglücke und Enttäuschungen zu verhindern, startete die deutsche Botschaft in Kabul vor einigen Wochen eine Kampagne zur Aufklärung der Afghanen über das Asylrecht und die Aufnahmesituation in Deutschland. In den nächsten Tagen sollen landesweit Plakate aufgehängt werden, um Flüchtlinge von der Ausreise abzuhalten und ihnen die Gefahren deutlich zu machen.
"Unsere Message ist, dass die Afghanen bleiben sollen", sagt Jakob von Wagner, Sprecher der Botschaft in Kabul der Deutschen Welle. "Dieses Land braucht sie und gehört ihnen. Afghanistan braucht junge Menschen, die ihre Energie in den Wiederaufbau stecken." Was Deutschland nicht brauche, so von Wagner, seien "Wirtschaftsflüchtlinge", die nicht über Fachkompetenzen verfügen.
"Europa ist nur ein Traum und eine Illusion", sagt Rezai traurig. "Wenn man die Schlepper fragt, so sagen sie, dass niemand ertrunken ist und die Bilder im Fernsehen aus alten Zeiten sind. Sie versuchen, einen zu überzeugen, dass keine Gefahr herrscht", berichtet der Witwer. Seine Stimme zittert. "Jetzt sehen wir aber selbst, dass jede Nacht so etwas passiert. Jede Nacht sterben Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen." Der kalte Winter ist nicht mehr weit.