Meister im Strukturwandel
23. Dezember 2016"Die Stilllegung von Zollverein", sagt Dr. Uwe Neumann vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), "war eine Zäsur." Das Aus für Zollverein vor genau 30 Jahren, der einst größten Zeche in Europa, symbolisiert nach Neumanns Worten auch das Ende der Montanindustrie im Ruhrgebiet. Damit stand dieser Ballungsraum vor einem unausweichlichen Strukturwandel. Wieder einmal. Denn die Talfahrt der Kohle hatte längst Fahrt aufgenommen. Inzwischen ist Zollverein ein viel besuchtes Weltkulturerbe und das Ruhrgebiet eine Region im Aufbruch ins digitale Zeitalter.
Mit der Förderung von Kohle und der Produktion von Stahl hatte das Ruhrgebiet den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung der jungen Bundesrepublik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelegt. Doch aufgrund ihrer Monostruktur war die industrielle Herzkammer der Republik anfällig. Schon Anfang der 1960er Jahre setzte das große Zechensterben ein, da die Förderkosten für Kohle aus dem Revier deutlich über dem Weltmarktpreis lagen. Darum galt es, in lange vernachlässigten Bereichen Aufholarbeit zu leisten.
Neue Perspektiven
Dazu gehörten Neugründungen von Universitäten und die Ansiedlung neuer Unternehmen wie etwa des Autobauers Opel in Bochum, der in Glanzzeiten über 25.000 Arbeitnehmer beschäftigte. Zugleich ging die Zahl der Beschäftigten im Stahl- und Kohlebereich zwischen 1976 und 1998 um 60 Prozent zurück. Doch im Ruhrgebiet, so Uwe Neumann vom RWI, eröffnete der Strukturwandel auch neue Beschäftigungsperspektiven. "Wir haben ja heutzutage sehr viele Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich. Es ist nicht so, dass insgesamt die Zahl der Arbeitsplätze ganz stark zurückgegangen wäre." In Großstädten wie Dortmund oder Essen beträgt der Beschäftigtenanteil im Dienstleistungsbereich inzwischen rund 80 Prozent. In anderen Ruhrgebietskommunen liegt der Anteil von Beschäftigten im produzierenden Bereich noch bei rund einem Drittel. Allerdings, so Uwe Neumann, merke man, "wie deutlich der Wandel stattgefunden hat".
Wenn auch nicht überall "im Pott", wie die Region umgangssprachlich genannt wird: Städte wie Gelsenkirchen oder Oberhausen, übrigens die Stadt mit der höchsten Verschuldung in der Republik, haben bei Arbeitslosenquoten von über 12 Prozent noch Nachholbedarf. Im Bundesdurchschnitt beträgt die aktuelle Quote 5,7 Prozent. Gelegentlich, merkt Wirtschaftswissenschaftler Neumann an, treten die Städte bei der Ansiedlung von Unternehmen als Konkurrenten an, was der Entwicklung der Region schade. Aber Kirchturmpolitik sei nichts Neues in diesem Ballungsraum. Und dennoch: Der Strukturwandel komme voran.
Vorreiter in der Gesundheitswirtschaft
Auch in Bochum - trotz des Verlustes von Tausenden Arbeitsplätzen nach den Werksschließungen des Handyherstellers Nokia und vor zwei Jahren beim Autobauer Opel. Mittlerweile ist die Ruhr-Universität mit rund 6000 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber in der Stadt. Außerdem floriert in der Revierkommune die Gesundheitswirtschaft. Welches Potenzial in diesem Wirtschaftsbereich steckt, darüber hat man nach den Worten von Wirtschaftsförderer Heinz-Martin Dirks bereits im Jahr 2000 nachgedacht.
"Da haben wir festgestellt, wir haben großes Know-how und haben dann dementsprechend auch eine neue Fläche im Umfeld der Ruhr-Universität entwickelt." Mit Erfolg, denn 2009 erhielt Bochum für den Gesundheitscampus NRW den Zuschlag. Auf diesem Areal forschen und fertigen heute mehrere renommierte Unternehmen. Angesichts der demographischen Entwicklung in der Bundesrepublik attestiert Wirtschaftswissenschaftler Neumann, dass man im Ruhrgebiet auf das richtige Pferd gesetzt hat, "denn die Gesundheitswirtschaft ist ein wesentlicher Wirtschaftsbereich, der eine zunehmende Rolle spielt."
Für Rolf Heyer von der Projektentwicklungsgesellschaft Ruhr bietet der Strukturwandel die Chance zu Bochum 4.0 - dem Wandel zur Wissensgesellschaft auf der Grundlage von acht Hochschulen und Universitäten in der Stadt, die eng mit der Wirtschaft kooperieren. Erfolgreiche Aussichten im Rahmen des Strukturwandels eröffnen nach Einschätzung von Uwe Neumann vom RWI auch die engen Verbindungen von Universitäten und Unternehmen in der prosperierenden IT-Wirtschaft. "Da gibt es Leuchttürme gerade die Universitäten in Dortmund und Bochum, aber auch die Universität Duisburg-Essen. Da haben wir Schwergewichte in der Ausbildung. Aber da haben sich auch Unternehmen im Umfeld angesiedelt, die hier zur Zukunft des Ruhrgebietes beitragen." G-Data mit Hauptsitz in Bochum zum Beispiel gehört zu den international führenden Herstellern von IT-Sicherheitslösungen. Unter dem Strich befinden sich gut 20 Prozent aller Arbeitsplätze im IT-Bereich mittlerweile im Ruhrgebiet.
Zentrale Lage in Europa als Wirtschaftsfaktor
Eine weitere bedeutsame Rolle im Zuge des Strukturwandels, so RWI-Experte Neumann, spielt die Logistikbranche für den Ballungsraum an der Ruhr. Denn die Lage im Mittelpunkt Europas, an der Wegkreuzung von Nord-Süd- sowie von Ost-West-Verkehrswegen prädestiniere das Ruhrgebiet zu einem Verteilungszentrum für Güter aller Art. Auf der Schiene, auf der Strasse, auf dem Luft- und auf dem Wasserweg.
Der Strukturwandel hat in den vergangenen Jahren Fahrt aufgenommen. Das gilt zudem für sogenannte weiche Wirtschaftsfaktoren. Auch im internationalen Vergleich verfügt das Ruhrgebiet über eine der dichtesten Kulturlandschaften mit renommierten Museen und Schauspielhäusern. Hinzu kommen diverse Musical-Tempel. Ein vielfältiges Angebot, das zunehmend Touristen und Besucher auch aus dem Ausland in die Region zieht.
Mit Blick in die Zukunft besitzt das Ruhrgebiet außerdem ein ganz spezielles Pfund, mit dem es wuchern kann. Und zwar als vitaler Standort moderner Industrien, die man beim Strukturwandel nicht aus den Augen verloren habe. Das sind, sagt RWI-Experte Neumann, "gute Voraussetzungen für die neuen Herausforderungen des digitalen Wandels. Diese produzierenden Unternehmen können Impulsgeber und Wachstumstreiber sein." Das Ruhrgebiet belebt auf diesem Weg alte Stärken neu.