Riesengeschäft Medizintourismus
11. Januar 2018DW: Wie viele Medizintouristen kommen pro Jahr insgesamt nach Deutschland?
Jens Juszczak: Es lassen sich jedes Jahr zwischen 230.000 und 250.000 Patienten aus 177 Ländern in deutschen Gesundheitseinrichtungen stationär oder ambulant behandeln. Etwas über 100.000 Patienten werden stationär im Krankenhaus aufgenommen. Differenzieren muss man zwischen geplanten und ungeplanten Krankenhausaufenthalten. Ausländische Gäste, die während ihres Urlaubs, während einer Geschäftsreise oder der Durchreise in Deutschland verunglücken oder erkranken, werden von den Krankenhäusern natürlich auch als ausländische Patienten erfasst.
Kann man in etwa abschätzen, wie groß der Anteil jener ist, die nicht zufälligerweise in Deutschland in eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus gehen, sondern die das wirklich geplant haben und gezielt für die medizinische Behandlung nach Deutschland gekommen sind?
Leider gibt es keine verlässlichen Zahlen. Aber die Schätzungen gehen in Richtung 40 bis 45 Prozent, die geplant einreisen.
Wo kommen denn die Patienten im Wesentlichen her?
Die meisten Patienten kommen aus unseren Nachbarländern wie Polen, den Niederlanden oder Frankreich. Vor allem Patienten in den Grenzregionen nutzen die Behandlungsmöglichkeiten im nahen Ausland. Wir haben aber auch sehr viele Patienten aus Russland, aus den anderen GUS-Staaten und den arabischen Golfstaaten. Vor allem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, aus Saudi-Arabien und Kuwait kommen seit Jahren relativ viele Patienten nach Deutschland.
Hat es da Verschiebungen gegeben, was die Herkunftsländer angeht in den in den letzten Jahren?
Das wechselt immer mal. Was den Nicht-EU-Markt angeht, haben vor knapp zehn Jahren die arabischen Länder dominiert. Wobei die Patienten-Nachfrage aus diesen Staaten relativ volatil ist: Wenn sich dort politisch oder ökonomisch etwas ändert, dann hat das in der Regel auch gravierende Auswirkungen auf die Nachfrage. Da können sich die Patientenzahlen von einem Jahr aufs andere halbieren. In den letzten Jahren war Russland der dominante Markt. Es sind immer mehr Leute aus Russland und auch aus anderen GUS-Staaten hier nach Deutschland zur Behandlung gekommen. Das hat sich mit dem Beginn des Russland-Ukraine-Konflikts geändert. Die EU-Sanktionen hatten große Auswirkungen auf die Nachfrage, 2015 musste ein Rückgang der russischen Patienten von über 30 Prozent verzeichnet werden. Hinzu kommen natürlich noch die schlechten Wirtschaftsbedingungen wie der Verfall des Rubels oder der niedrige Ölpreis, die natürlich auch ihre Auswirkungen haben.
Was bedeutet der Medizintourismus denn wirtschaftlich? Welche Summen werden da umgesetzt?
Wir schätzen, dass durch ausländische Patienten den deutschen Krankenhäusern mehr als 1,2 Milliarden Euro an zusätzlichen Einnahmen bringen. Dieses Geld kommt aus anderen Volkswirtschaften und nicht aus einer innerdeutschen Umverteilung von Geldern. Es ist zusätzliches Geld, was unserem Gesundheitssystem zur Verfügung steht. Die Krankenhäuser können damit zusätzliches Personal anstellen, sie können neue Geräte anschaffen und ähnliches, was einen direkten Nutzen auch für die deutschen Patienten bringt. Zu diesen 1,2 Milliarden Euro kommt noch mindestens ein gleich großer Betrag in den Bereichen Tourismusindustrie, Beherbergung und Handel.
In welche Kliniken gehen die Patienten denn? Sind es vielleicht besonders die Privatkliniken, die den Löwenanteil dieses Geschäfts abschöpfen?
Sicher profitieren auch Privatkliniken. Insbesondere, wenn dort Reha-Maßnahmen durchgeführt werden. Aber es profitieren vor allem die Universitätskliniken und die großen kommunalen Kliniken, wie zum Beispiel das Universitätsklinikum Freiburg oder Vivantes in Berlin. Das sind die attraktivsten Adressen auch für die ausländische Klientel.
Gibt es denn Kliniken oder gibt es auch Städte, die besonders beliebt sind bei ausländischen Patienten?
Das sind vor allem die Städte mit Universitätskliniken wie München, die Region Köln-Bonn-Düsseldorf oder Berlin. Hotspots sind auch die Rhein-Main-Region oder Hamburg.
Gibt es denn Eingriffe, oder medizinische Bereiche, die für ausländische Patienten, für Medizintouristen eine besondere Rolle spielen?
Grundsätzlich sind das natürlich dieselben Eingriffe, die bei deutschen Patienten durchgeführt werden. Die am häufigsten nachgefragten Fachbereiche sind Orthopädie, Innere Medizin, Kardiologie und Chirurgie. Wenn man sich aber spezielle Ländermärkte anschaut, dann variiert das schon. Bei Patienten aus dem GUS-Raum dominieren vor allem Behandlungen aus der Onkologie. Das liegt noch an den Schäden die Tschernobyl verursacht hat. Da kommen Patienten verstärkt nach Deutschland, weil sie Tumore haben, die geheilt werden müssen. In den Golfstaaten gibt es durch Fehlernährung und wenig Bewegung eine große Nachfrage nach Behandlungen von Stoffwechselerkrankungen sowie den damit verbundenen anderen Fachdisziplinen wie kardiologische Erkrankungen, wie Erkrankungen des Bewegungsapparates, Augenerkrankungen, hoher Blutdruck usw.. Dazu kommen noch Fachbereiche, für die es in den entsprechenden Ländern nur ein schlechtes oder gar kein medizinisches Angebot gibt. Anzuführen sind hier die Kinderneurologie oder die Rehabilitation.
Jens Juszczak forscht an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg seit 15 Jahren im Bereich Medizintourismus.
Die Fragen stellte Matthias von Hein.