Das Ende der You-Economy?
19. August 2018Kurz vor acht Uhr Abends im New Yorker Stadtteil Queens. Sikander Singh steigt in einen schwarzen Toyota Camry, wirft einen kurzen Kontrollblick auf die Rückbank und klemmt sein Smartphone in die Halterung. Für den 23-jährigen Uber-Fahrer beginnt jetzt sein Arbeitstag. "Nachts ist weniger Verkehr", sagt er. "Ich hab nicht die Geduld, tagsüber ständig im Stau zu stehen."
Singh kam vor fünf Jahren aus Pakistan nach New York. Nach erfolgloser Jobsuche erfuhr er durch einen Freund von dem Fahrdienst Uber. 400 Dollar am Tag könne man damit machen. Man bräuchte nur eine Fahrerlizenz für etwa 1000 Dollar - weitaus billiger als eine reguläre Taxilizenz für mehrere Hunderttausend Dollar.
Singh bestand den Test beim ersten Versuch, wenige Tage später fuhr er bereits seine ersten Fahrgäste durch die Millionenstadt. Seine Ausrüstung: ein Smartphone und ein gemietetes Auto. Sein erster richtiger Job in New York. Und plötzlich war er mitten drin in der You-Economy.
Auch wenn Experten diese Bewegung alle etwas anders definieren, im Kern geht es um eine Wirtschaftsordnung, bei der Menschen sich ihren eigenen Job schaffen. Sie teilen ihr Auto, ihr Apartment, Technologien oder Fähigkeiten. Jeder ist sein eigener Boss, gezahlt wird pro Auftrag. Was für viele als Nebeneinkunft zu einem Vollzeitjob beginnt, ist besonders für Migranten in den USA nicht selten die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.
Das traditionelle System zerbricht
Richard Wolff, emeritierter Wirtschaftsprofessor an der University of Massachusetts in Amherst, erklärt sich diese Entwicklung mit einem zunehmenden Ungleichgewicht von Macht zwischen Unternehmen auf der einen und Arbeitnehmern auf der anderen Seite. Während Unternehmen immer profitabler werden und Kosten sparen durch billigere Arbeitskräfte oder den Einsatz von Maschinen, bliebe der Arbeitnehmer auf der Strecke.
"In den letzten 30 Jahren ist das, was der Arbeiter leistet, immer mehr geworden, doch die Gehälter sind gleich geblieben", sagt Wolff. "Mit ihrer Macht konnten die Unternehmen sichere Arbeitsplätze mit Sozialleistungen in die unsicheren Jobs der You-Economy verwandeln."
Freiberufler in der You-Economy stehen nach Ansicht von Wolff ohne jede soziale Absicherung da. "Das ist schrecklich", sagt der 76-Jährige. "Arbeiter sind jetzt auf sich selbst gestellt. Der Kapitalist benutzt dich, wenn er dich gerade braucht. Und wenn nicht - dann hast du gar nichts."
Wolff glaubt, dass sich besonders junge Menschen, die in die You-Economy gezwungen wurden, alles nur schön reden. "Einige Millennials glauben, dass das Freiheit ist. Die Ironie ist aber: Sie haben jetzt zwar die Freiheit, durchs ganze Land zu reisen, sie können sich aber auch zu Tode hungern oder gar kein Leben haben, wenn der Kapitalist keinen Profit mit ihnen machen kann", sagt er.
Der Ökonom ist überzeugt davon, dass sich Amerika auf eine Krise zubewegt. Es gebe in dem System zu viele junge Menschen, die keine finanzielle Rücklagen fürs Alter haben. Das Land würde weiter in Schulden versinken, weil sich die You-Economy nicht rechnet.
Wolff geht sogar noch weiter: "Dieses System ist nicht nur in Schwierigkeiten. Es kann sogar sein, dass es jetzt bald zu Ende ist. Jedes Wirtschaftssystem ist mal entstanden, hat sich entwickelt und ist dann gestorben."
Work-Life-Balance statt hohes Gehalt
Ganz anderer Meinung ist dagegen die mehrfache Firmengründerin Susan Sly. "Ich glaube nicht, dass die You-Economy tot ist", sagt sie. "Die You-Economy ist so lebendig wie nie."
Die Statistiken geben der Unternehmerin recht. Daten der Umfrage-Firma Harris Poll zufolge haben bereits 33 Prozent aller Amerikaner Geld in der You-Economy verdient. Prognosen gehen davon aus, dass es in zwei Jahren rund die Hälfte der erwerbstätigen Amerikaner sein wird.
Susan Sly kooperiert mit mehr als 400 Firmen aus der You-Economy. Ihr erstes eigenes Business hatte sie mit elf Jahren. Sie glaubt, die You-Economy ist aus Unterschieden in den Generationen entstanden: "Millennials ist ihre Work-Life-Balance wichtiger als ein hohes Gehalt. Sie sagen sich: So wie die vorhergehende Generation möchte ich nicht arbeiten. Ich will mein Leben nach meinen Regeln leben."
Sly ist auch überzeugt, dass die junge Generation nichts mehr von den sozialen Sicherungssystemen erwartet. "Ich glaube nicht, dass irgend ein junger Mensch die Illusion hat, dass die Regierung irgendwann für seine Rente aufkommen wird", sagt sie.
Mit Plattformen wie dem Fahrdienst Uber, der Unterkunftsvermittlung Airbnb oder auch Youtube könne heute jeder im Handumdrehen zum Unternehmer werden. Im Vergleich zu früher koste es auch kaum noch Geld, sein eigenes Geschäft zu gründen. Vieles gehe von zu Hause aus und Online, sagt Sly.
Strengere Regeln in New York
Allerdings geht New York jetzt als erste US-Metropole härter gegen You-Economy-Firmen wie die Fahrdienste Uber und Lyft vor. Vor kurzem beschloss der Stadtrat, die Zahl der Fahrerlizenzen für diese Anbieter zu deckeln und außerdem einen Mindestlohn für Beschäftigte vorzuschreiben. Die Maßnahmen sind zunächst auf eine Jahr befristet.
Susan Sly glaubt nicht, dass die You-Economy durch solche Auflagen gestoppt werden kann. "Menschen sind anpassungsfähig. Sie werden immer einen Weg finden. Geschäfte brauchen weniger gesetzliche Einschränkungen", sagt die Unternehmerin.
"Die Geschäftswelt ist im Umbruch, Politik und Unternehmen müssen schauen, dass sie den Anschluss nicht verlieren. Städte wie New York schaden sich nur selbst damit, wenn sie die You-Economy nicht unterstützen." Slys Argument: Wenn Menschen mehr Möglichkeiten haben, Geld zu verdienen, hilft das der Wirtschaft insgesamt. "Meiner Meinung nach sind solche Einschränkungen lächerlich", sagt die Multimillionärin.
Auch Uber-Fahrer Sikander Singh lässt sich von den neuen Regulierungen gegen den Fahrdienst nicht beeindrucken. Uber-Fahren sei für ihn nur eine Möglichkeit, sich etwas Startkapital zu verdienen. "Mein Traum ist es, mit meinem Bruder eine eigene Tankstelle zu eröffnen", sagt er.
Als Angestellter in einem "9 to 5"-Job zu arbeiten, sei nichts für ihn. Verträumt blickt er auf die menschenleeren Straßen im Stadtteil Queens. Die Autouhr zeigt 4:43 Uhr in der Frühe. "Ich mach jetzt Feieraband", sagt der er und parkt sein gemietetes Auto.